Kolumne: Expedition Wirtschaft
Die Idee klingt im Ansatz doch erstmal sehr nett: Neben dem monatlich ausgezahlten Gehalt, das in der Alltagsrealität doch eher für Miete, Strom, Kleidung und Essen ausgegeben wird, ein kleines bisschen extra zu bekommen, einfach damit man abends mal ein Glas Bier trinken gehen kann – Arbeiterromantik schlechthin. In der Realität offenbart sich das Trinkgeld allerdings als ein Mittel von Diskriminierung und der Möglichkeit, Arbeitsgesetzgebung geschickt zu umgehen.Trinkgeld ist ungerecht
Ich glaube: Trinkgeld gehört abgeschafft, aufs Schafott der Geschichte und das möglichst schnell! Warum? Zunächst einmal ist es in höchstem Grade ungerecht. Schwarze Menschen bekommen weniger, Frauen bekommen mehr, Frauen mit sexualisierender Kleidung bekommen noch mehr und Mitarbeiter, die in der Küche stehen bekommen gar nichts (1) . Für diese Diskriminierungen ist es sogar egal, ob die Person, die das Trinkgeld bezahlt, selbst Mitglied der entsprechenden Gruppe ist. Diese Ungleichbehandlung widerspricht unseren Prinzipien, sie widerspricht der Idee des Allgemeinen Gleichstellungsgesetz und der Idee von Trinkgeld als qualitätsabhängiger Zusatz. Der US-Supreme Court, in dessen Jurisdiktion „tipping“ gemessen am Umsatzvolumen noch ein viel größeres Thema ist, hat bereits 1970 festgestellt, dass Maßnahmen, die als indirekte Konsequenz Diskriminierung gegen rechtlich geschützte Gruppen zur Folge haben, verboten sein können (2).Volkswirtschaftlich fragwürdig
Auch volkswirtschaftlich ist Trinkgeld ein sehr fragwürdiges Konzept, denn hier wird durch den potenziellen, zusätzlichen Verdienst ein Abwärtsdruck auf die Löhne ausgeübt. Während es durch den Mindestlohn zwar sehr wohl ein unteres Lohnlimit gibt, sollten Arbeitnehmer eine sichere Verhandlungsposition gegenüber Arbeitgebern haben. Diese dürfen nicht mit dem Verweis auf Trinkgelder von vorneherein nichtig gemacht werden. Besonders problematisch ist, dass auf dieses zusätzliche Gehalt keinerlei Steuern oder Sozialversicherung gezahlt wird (werden muss (3) ). Damit sammeln Arbeitnehmer keine Rentenansprüche, was, wenn wir uns die aktuelle politische Diskussion um die Grundrente anschauen, durchaus ein ernstzunehmendes Problem ist. Dazu kommt die Unsicherheit dieser Zusatzzahlung, die sich negativ auf den Arbeitnehmer auswirkt. In der Volkswirtschaftslehre sprechen wir dabei von Risikoaversion. Wir glauben, dass die allermeisten Menschen es vorziehen würden, ein Gehalt zu bekommen, das jeden Monat 2000€ beträgt, statt mit 50% Wahrscheinlichkeit 4000€ zu bekommen, aber mit gleicher Wahrscheinlichkeit dann eben gar kein Gehalt. Wenn das so ist, sollten Menschen ein höheres Grundgehalt einem Modell von Grundgehalt plus Trinkgeld eindeutig vorziehen.Das Wetter hat einen größeren Einfluss auf die Höhe des Trinkgeldes als das Verhalten der KellnerInnen
Jetzt mag man erwidern, dass Trinkgeld doch auch eine wichtige volkswirtschaftliche Funktion erfüllt. Leistung, in diesem Falle Serviceleistung wird leistungsgerecht entlohnt. Während ein solches System in der Theorie zu befürworten ist, spricht die Empirie wie so häufig andere Worte. Gerade einmal 4% der Varianz im Trinkgeld lassen sich durch wahrgenommene Servicequalität erklären. Das ist Statistikerdeutsch für „ist eigentlich relativ egal, wie gut der Service ist“. Das heißt, dass zwar alle Leute glauben, der Service bestimme die Höhe des Trinkgeldes, aber auch hier liegen mal wieder alle gemeinsam falsch. Die traurige Realität ist: Das Wetter hat einen größeren Einfluss auf die Höhe des Trinkgeldes als das Verhalten der KellnerInnen (4) . Menschen sollten nicht dafür belohnt werden, dass sie das Glück hatten, eine Schicht bei Sonnenschein abbekommen zu haben.Trinkgeld ist Erpressung am Kunden
Neben diesen wirtschaftlichen Aspekten, ist im Besonderen noch ein sozialpsychologischer Aspekt erwähnenswert: Im Kern ist Trinkgeld eine Erpressung am Kunden. Der soziale Druck, der auf einer Situation lastet wird ausgenutzt, um eine monetäre Vergütung zu erlangen. Experimente, die am Personenbeförderungsunternehmen Uber durchgeführt wurden, zeigen, dass die Bereitschaft ein Trinkgeld zu hinterlassen, radikal abnimmt, wenn dabei kein sozialer Druck entsteht. 60% der Kunden geben in einer solchen Situation niemals Trinkgeld und nur 1% der Menschen hinterlässt für jede Fahrt ein Trinkgeld (5). Wenn wir das mit der Situation in Cafés oder Restaurants vergleichen, wird die Bedeutung des sozialen Drucks höchst deutlich. In einer freien Gesellschaft halte ich diese Art von impliziter Erpressung für nicht erstrebenswert.Deswegen, liebes Trinkgeld: „ Es wird Zeit, dass wir uns verabschieden“. von Jan Ehlert, Referent für Wirtschaft und Finanzpolitik im ZGV