Erwerbsarbeit ist ein Teil des sozialen Lebens und nicht das Ganze
Am Donnerstag, den 5. Juni 2014, lud das Zentrum Gesellschaftliche Verantwortung zum zweiten Forum Kirche, Wirtschaft, Arbeitswelt nach Mainz ein. Die einmal pro Jahr stattfindende Veranstaltung soll dazu dienen, unternehmerische Perspektiven, Anliegen und Interessen der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer sowie das gesellschaftliche Engagement der EKHN im Blick auf ein gemeinsames Thema zu bündeln und miteinander ins Gespräch zu bringen. In diesem Jahr stand das Thema Arbeit im Mittelpunkt. Die noch dominierende Konzentration auf Erwerbsarbeit im Zusammenhang mit diesem Thema sollte aufgebrochen und all jene Bereiche menschlicher Arbeit mit in den Blick genommen werden, die derzeit noch keine ausreichende Wertschätzung erfahren.Im christlichen Glauben ist „Arbeit alles, was lebensdienlich ist“, so der Leiter des Zentrums Gesellschaftliche Verantwortung Oberkirchenrat Christian Schwindt in seiner Einführung. „Arbeit ist dem Menschen schlicht zum Leben gegeben. In treuhänderischer Verantwortung soll er gleichsam den Prozess der hegenden Erhaltung und weitreichenden Gestaltung der göttlichen Schöpfung übernehmen; und das ist nun weiß Gott nicht nur im Modus von Lohn- bzw. Erwerbsarbeit zu gewährleisten. Sich um andere Menschen kümmern, die Hilfe brauchen, Kindererziehung, Nachbarschaftshilfe, bürgerschaftliches Engagement in der Breite der Einsatzmöglichkeiten, ob in der Kultur oder Naturarbeit – all das ist Arbeit, verdient gesellschaftliche Anerkennung und braucht natürlich Zeit,“ so Schwindt weiter.
Die emeritierte Professorin Frigga Haug stellte im Hauptvortrag des Vormittags ihre „4in1 Perspektive“ zur Diskussion. Sie wirbt dafür, die abstrakte Fixierung auf die Erwerbsarbeit zu überwinden. Die vier Bereiche Erwerbsarbeit, fürsorgende Arbeit, persönliche Entwicklung und Politik seien allesamt wesentliche Aspekte humaner Lebensführung und sollten daher auch bewusst zu gleichen Teilen bei der Gestaltung unseres Alltags wertgeschätzt werden. Haug forderte dazu auf, mehr Zeit für jene Lebensbereiche zu erkämpfen, die derzeit durch die Dominanz der Erwerbsarbeit zum Schaden des Humanen aus dem Blick geraten sind. „Denn vieles um Arbeit und Leben ist ins Ungleichgewicht geraten“, so Haug. Nach ihrer Ansicht sei eine radikale Verkürzung der Erwerbsarbeitszeit geboten, verbunden mit der allgemeinen Aufwertung und Aufnahme fürsorglicher Arbeit für alle, gleichzeitiger Gewinnung von Zeit für die persönliche Entwicklung, Bildung und Gestaltung der Gesellschaft. Und wenn dies aus der Perspektive der Erwerbsarbeit nach Teilzeitarbeit aussehe, sei das eben die neue Vollzeitarbeit.
Während einige Gäste in diesen Überlegungen einen längst überfälligen Appell für eine menschengerechtere Einrichtung der Gesellschaft sahen, konnten sich die meisten Podiumsgäste und Besucher des Forums ihnen nur schwer anschließen. Zu ungewohnt war wohl die Perspektive Haugs, und vor allem auch zu wenig nachvollziehbar, wie denn der von ihr geforderte Systemwechsel ganz praktisch organisiert werden solle. Zwar hatten die meisten eine Idee, wofür sie gerne mehr Zeit hätten, aber die wenigsten konnten sich vorstellen, wie ein solches Konzept realisiert und vor allem auch bezahlt werden könnte. Allein mit dieser Frage wurde deutlich, dass es noch höchst ungewohnt ist, den Bereichen jenseits der Erwerbsarbeit ebenfalls einen Wert beizumessen – auch wenn der nicht in Geld ausdrückbar ist.
Susann Mommsen vom Verband berufstätiger Mütter setzte sich in der Podiumsdiskussion für den Ausbau von Ganztagsbetreuung in Kitas und Schulen ein und forderte bundeseinheitliche Bildungsstandards, damit berufstätige Eltern mit schulpflichtigen Kindern leichter das Bundesland wechseln können. Es ist ihr wichtig, nicht nur auf ihre Mutterrolle reduziert zu sein, sondern auch zu arbeiten und dies am liebsten Vollzeit.
Für Hans Joachim Heidecker, Sprecher der Industriebetriebsräte in Mainz, fehlt vor allem die Wertschätzung aller Arbeit, nicht nur der Erwerbsarbeitszeit.
Dr. Werner Scherer von der Vereinigung hessischer Unternehmerverbände sieht Haugs Votum für einen generellen 4 Stunden Erwerbsarbeitstag skeptisch. Dagegen spricht für ihn eindeutig der zu große Organisationsaufwand. Auch seien die immensen Kosten nicht zu finanzieren. Der Verband setzt seinerseits darauf, Mitglieder über die inzwischen entwickelten Möglichkeiten der Vereinbarkeit von Familie und Beruf zu informieren oder auf innovative Verbesserungen der Rahmenbedingungen für Unternehmen. Letztlich gilt in jedem Fall: „Wenn es dem Betrieb gut geht, geht es auch den Beschäftigten gut“, so Scherer.
Ralf Lokay, Inhaber der gleichnamigen Druckerei, stellt in seiner Rolle als Arbeitgeber den Menschen in den Vordergrund. So bezahlt die Firma etwa die Kosten für den Kitaplatz oder richtet Homeofficeplätze ein, damit Eltern kranker Kinder von zuhause arbeiten können. Grundsätzlich hält er alle Arbeitsplätze für teilbar. Mit Blick auf die Vorschläge Frigga Haugs zweifelt er bei seinen Beschäftigten an der Bereitschaft, weniger Stunden als Erwerbstätige zu arbeiten. Denn einige brauchen das Einkommen, weil sie sich beispielsweise ein Haus gebaut haben, andere weil sie sich an ein bestimmtes Konsumniveau gewöhnt hätten.
Ein anderer konzeptioneller Ansatz wurde ebenfalls mehrheitlich kritisch gesehen: Wenn schon ein genereller 4 Std. Erwerbsarbeitstag für die meisten nicht denkbar ist, wie wäre es dann mit einer 30 Stundenwoche bei vollem Lohnausgleich?
Die Teilnehmer und Teilnehmerinnen der Streit-Bar, die am Nachmittag stattfand, hatten dazu unterschiedliche Meinungen: Unternehmer Siegfried Huhle aus Wiesbaden musste zuerst einmal schlucken, denn er macht die Erfahrung, dass immer mehr Mitarbeiter sogar Zweit oder Drittjobs haben, um über die Runden zu kommen. Er selbst ist daher ein großer Verfechter des Mindestlohns und zwar von mindestens 12 Euro.
Laut Alexander Da Silva vom DGB Hessen-Thüringen gibt es in der Frage der 30 Stundenwoche wieder ein Umdenken. Während in den letzten Jahren in den Tarifverhandlungen eine Arbeitszeitverlängerung verhindert werden sollte, will man jetzt wieder offensiv an Arbeitszeitverkürzung arbeiten.
Arbeitsmediziner Dr. Michael Vollmer machte auf einen weiteren Punkt aufmerksam: Medizinische Studien deuten darauf hin, dass es nicht alleine die Arbeitszeitbelastung ist, die zu Erschöpfung und Burnout führen kann, sondern vor allem auch Arbeitsverdichtung, schlechtes Klima im Betrieb und die Qualität der Arbeit. Diese gesundheitlichen Probleme werden jedoch nicht durch eine Verkürzung der Arbeitszeit gelöst.
Für Stefan Lerach von der Arbeitsloseninitiative Wetzlar nimmt der Vorschlag der 30- Stunden Woche die Probleme der Arbeitslosen nur sehr begrenzt wahr.
Es scheint noch ein sehr weiter Weg zu sein, um zu einer angemessenen gesellschaftlichen Wertschätzung jener Bereiche menschlicher Arbeit zu gelangen, die sich nicht als Erwerbsarbeit gestalten. Sozialethischer Beitrag von Pfarrer Dr. Ralf Stroh