„Seelische Erhebung“ im 21. Jahrhundert? Über einen altertümlichen Ausdruck mit höchst aktuellem Inhalt
von Pfarrer Dr. Ralf Stroh, Zentrum Gesellschaftliche Verantwortung der EKHN, Mainz
Als vor wenigen Tagen der Verwaltungsgerichtshof Kassel dem Unternehmen Tegut untersagte, seine teo genannten Kleinstsupermärkte an Sonn- und Feiertagen zu öffnen, begründete er dies in der entsprechenden Pressemeldung mit dem grundgesetzlich verbrieften Schutz der „seelischen Erhebung“ an diesen Tagen.
Augenblicklich kommentierten die Leser in den Online-Ausgaben der überregionalen Presse landauf-landab diese Begründung mit ungläubigem Kopfschütteln: Im Jahr 2024 wird ein neues Geschäftsmodell unter Bezugnahme auf den Schutz von „seelischer Erhebung“ blockiert? Das kann ja wohl nur ein Scherz sein! Und sofort gab es auch Ankündigungen aus dem hessischen Landtag, umgehend für eine zeitgemäße Anpassung der Gesetzeslage zu sorgen – nicht nur aus dem Lager der Regierungsparteien, sondern auch aus den Reihen der Opposition.
Mal abgesehen davon, dass es höchst zweifelhaft ist, ob eine Regelung des Grundgesetzes zum Schutz der Sonn- und Feiertage einfach per Landesgesetz aufgehoben werden könnte, darf schon mal höflich gefragt werden, ob nicht mit der Ignoranz einer altertümlichen Formulierung ungewollt die Ignoranz höchst aktueller wissenschaftlicher Studien zur Entwicklung spezifisch menschlicher Intelligenz und sozialer Kompetenz einhergeht.
Seelische Erhebung als Erfahrung von Freiheit
Zunächst einmal: Der Ausdruck „seelische Erhebung“ meint schon seit seiner ersten Aufnahme in die Gesetzgebung zum Schutz der Sonn- und Feiertage mehr und anderes als nur die Verpflichtung der Bevölkerung auf eine bestimmte historische Frömmigkeitskultur, die uns heute fremd geworden sein mag. Anders ließe sich gar nicht erklären, dass diese Formulierung mit Zustimmung auch durchaus kirchenferner gesellschaftlicher Gruppen Eingang in den Gesetzestext fand – und zwar in prominenter Stellung als Bestandteil der Verfassung. Und anders ließe sich auch gar nicht erklären, dass diese Formulierung die Rechtsprechung einer Richtergeneration bestimmt, die schon seit vielen Jahrzehnten in ihrem Studium kaum noch in Kontakt kommt mit den sozialethischen Theorien der christlichen Theologie oder der gesellschaftlichen Prägekraft religiöser Kulturen oder Kultur überhaupt, abgesehen vielleicht von der des homo oeconomicus, wenn es die denn irgendwo geben sollte.
Gemeint ist vielmehr mit diesem ungewöhnlichen Ausdruck das allgemein menschliche Phänomen des Heraustretens aus alltäglichen Hierarchien, den Über- und Unterordnungsverhältnissen von Befehl und Gehorsam und das Eintreten in eine Logik des Miteinander, die sich nicht am Maßstab von Gewinn und Verlust, Sieg oder Niederlage orientiert, sondern an der Freude an schlichter Geselligkeit oder der Freude, für sich selbst Zeit zu haben, ohne das irgendwem gegenüber begründen zu müssen.
„Seelische Erhebung“ ist nichts anderes als der Zustand geistiger Freiheit, wenn wir uns erheben aus den alltäglichen Zwängen unserer gesellschaftlichen und beruflichen Rolle und zu dieser in Distanz treten können. Klar, dass wir uns auch dann wieder in irgendwelchen Rollen vorfinden, aber allein schon, dass es auch noch andere Rollen gibt, in denen wir unser Leben führen, ist eine Bereicherung unserer Persönlichkeit und trägt zu ihrer Reifung bei, weitet unseren Blick, stiftet Tiefgang und neues Verständnis.
Anthropologische Grundlagen
Und zur Aktualität „seelischer Erhebung“ ein Blick auf den gegenwärtig maßgeblichen Standard der wissenschaftlichen Forschung zum Menschen: Wie unverzichtbar Zeiten freier Geselligkeit für die Entfaltung menschlicher Intelligenz und sozialer Kompetenz sind, hat erst unlängst der Anthropologe und Verhaltensforscher Michael Tomasello in seinem Buch „Mensch werden“ anhand zahlreicher Feldstudien in höchst unterschiedlichen Kulturen beschrieben.
In seinem Werk stellt er sich der Frage, auf welche Weise es dem Menschen gelungen ist, eine Kultur zu entwickeln, die es ihm erlaubt, in höchst unterschiedlichen klimatischen Umständen und in Konkurrenz zu höchst unterschiedlichen anderen Lebewesen an diesen jeweiligen Orten nicht nur zu überleben, sondern diese Umgebungen zu gestalten und zu prägen.
Dabei läuft seine Antwort unter Darlegung der spezifisch menschlichen Disponiertheit zu Kooperation und Innovation darauf hinaus, dass zur Verwirklichung dieser spezifisch menschlichen Anlagen und zur Entfaltung menschlicher Intelligenz und sozialer Kompetenz das Miteinander von Kleinkindern mit ihresgleichen als Gleichberechtigten entscheidend ist.
Während nämlich in der frühkindlichen Phase die Entwicklungsgeschwindigkeit von Menschenkindern zwar bereits signifikant schneller verläuft als bei anderen Primaten, diese Entwicklung aber vor allem in der Imitation erwachsener Autoritätspersonen besteht – in dieser Zeitphase spielen Kinder noch nicht miteinander, sondern höchstens nebeneinander -, ergibt sich durch das gleichberechtigte Miteinander von Kleinkindern ohne Anleitung durch Erwachsene für diese Kinder die Notwendigkeit, ihr Zusammensein und Zusammenspielen zu regulieren, ohne dass unmittelbar klar ist, wem man folgen, wen man nachahmen soll. Das erzeugt einen qualitativen Sprung und ist die Grundlage menschlicher Kooperation als die Kooperation von Gleichen, deren unterschiedlichen Interessen und unterschiedlichen Prägungen durch die jeweiligen Autoritätspersonen miteinander in Ausgleich gebracht werden müssen.
Was in der Kindheit stark macht, tut auch Erwachsenen gut
Spezifisch humane Intelligenz und spezifisch humane Kooperation entsteht aus Sicht der Verhaltensforschung durch die Infragestellung überkommener Autoritäten in einem sozialen Setting, das die üblichen Hierarchien außer Kraft setzt und danach fragen lässt, welche sachlichen und überindividuellen Gesichtspunkte des Zusammenlebens gemeinsam ausgemacht werden können.
In diesem Lebenszusammenhang entsteht erst die besondere Leistungsfähigkeit menschlicher Sprache und die eigentümlich menschliche Fähigkeit zur Theoriebildung und Anerkennung unterschiedlicher Perspektiven, also Toleranz – mit der unmittelbaren Folge, dass sich genau ab diesem Zeitpunkt Zukunft eröffnet als der Raum, in dem Neues entstehen kann.
Was Michael Tomasello in seiner frühkindlichen Entwicklungsgeschichte beschreibt, ist nichts anderes als das Phänomen „seelischer Erhebung“.
Bedauerlicherweise scheint es, als würde diese Hochschätzung von Lebenszusammenhängen, in denen Phantasie, sachorientierte Kritikfähigkeit und Innovationskraft hervortreten dürfen, in späteren Lebensaltern in Vergessenheit geraten und gesellschaftlich der Ignoranz überlassen – wie man dem gegenwärtigen verächtlichen Umgang mit der Rede von der „seelischen Erhebung“ entnehmen kann. Aber es gibt eben leider nicht nur eine künstliche Intelligenz, sondern auch eine künstliche Dummheit. Von unserer Disposition her sind wir aber zu anderem bestimmt, wie Michael Tomasello anschaulich beschreibt. Ohne gemeinsame freie Zeiten, die nicht durch die Hierarchien des Werktages bestimmt sind, verkümmern menschliche Kultur und Gestaltungskraft. Man muss hoffen, dass sein Buch in Hessen auch gelesen und nicht nur von der FAZ als bahnbrechend gefeiert wird.