Zeit als Horizont menschlichen Handelns
Für das Themenheft „Zeit“ aus der Reihe MITTENDRIN AM RANDE der bremischen Landeskirche zum 1.Mai hat Pfarrer Dr. Ralf Stroh einen theologischen Beitrag geschrieben, den wir hier in einer Fassung dokumentieren, die das christliche Zeitverständnis über den im Themenheft publizierten Text hinaus auch noch auf die österliche Glaubenserfahrung bezieht.
Zeit als Horizont menschlichen Handelns
Anmerkungen aus theologischer Perspektive
von: Pfr. Dr. Ralf Stroh, Zentrum Gesellschaftliche Verantwortung, Mainz
Es gibt Erfahrungen, die auf eindrückliche Weise klarmachen, dass wir die Zeit nicht zurückdrehen können und Versäumtes sich nicht nachholen lässt. Der Tod eines geliebten Menschen zum Beispiel: Gemeinsame Pläne werden nie mehr Realität werden. Der Vorfreude auf gemeinsame Zeit bleibt ihre Erfüllung versagt. Was bisher wichtig erschien, erscheint vor diesem Hintergrund unwichtig oder zumindest weniger wichtig als das, was jetzt für immer ungesagt, ungetan, unerfüllt bleibt.
Ungesagt, ungetan und unerfüllt bleibt dabei nicht etwas, das die Summe des im Leben Erreichten noch größer hätte ausfallen lassen. Stattdessen wird etwas anderes wehmütig bedauert: „Wir hatten nur für unsere Ziele gelebt, nicht für uns selbst. Wir hatten gar nicht bemerkt, was wir aneinander haben – und dass wir es gar nicht nötig hatten, erst etwas erreichen zu müssen, um einander etwas zu bedeuten“.
Erfüllte Zeit
Zeit ohne besondere „Aktionen“ wird oft erst wertgeschätzt, wenn man nichts mehr miteinander unternehmen kann: im Sterben und Loslassenmüssen, wenn man nicht mehr miteinander reden kann, keine Pläne mehr machen kann, und das einzige, das bleibt, das Streicheln der Hand und das gemeinsame Schweigen ist. Aber auch am Beginn des Lebens ist diese Erfahrung nur allzu vertraut und diesmal mit ganz heiterer Stimmungslage: Es bedeutet keinen Verzicht, dass man mit dem Neugeborenen noch nichts unternehmen kann, dass er nicht zu uns reden kann und wir nicht zu ihm. Keine gemeinsame Aktivität könnte die Seligkeit steigern, die es bedeutet, dies Kind einfach in den Armen zu halten, es zu streicheln und anzuschauen. Zuweilen wird einem solche Erfüllung auch im Zusammensein mit anderen Erwachsenen geschenkt – und wir dürfen uns glücklich schätzen, wenn wir sie dann tatsächlich bemerken und nicht übersehen.
In diesen Momenten, den so heiteren wie den so wehmütigen, ist Zeit nicht etwas, das abläuft, bis man etwas Angestrebtes erreicht hat, sondern ist in sich selbst Erfüllung, in sich selbst Gegenwart des Ersehnten – Ewigkeit. Der Inhalt der Zeit sind dann nicht Aktionen, sondern ist Nähe, und zwar im Sinne von unverstellter Begegnung in all ihren Ambivalenzen und nicht von Distanzlosigkeit und seichter Harmonie.
Auch diese Zeit, diese erfüllte und erfüllende Gegenwart, ist Gegenstand verantwortlichen menschlichen Handelns. Das wird zwar in Zeiten gerne vergessen, die durch die möglichst effiziente Ausnutzung sich bietender Handlungsmöglichkeiten charakterisiert sind, aber für die christlich-jüdische Glaubenstradition ist diese besondere Form der gefüllten und erfüllenden Gegenwart der maßgebende Horizont wahrer Humanität.
Am Anfang wie am Ende des Lebens scheint uns eine Wahrheit über unser Leben auf, die wir in seinem Verlauf oft an den Rand schieben: dass dies Leben ein Geschenk ist, das viel mehr für uns bereithält, als es die gesellschaftlichen Rollen zur Geltung kommen lassen, in denen wir uns vorfinden, in die wir gedrängt werden oder uns sogar selbst hineinbegeben.
Zeit und Effizienz
An den Rändern des Lebens und in seinen intimsten Momenten wird deutlich, dass die Schubladen, in die wir unser Leben und das Leben unserer Mitmenschen einsortieren, ihre volle Bedeutung nicht dadurch erhalten, dass wir sie schließen, sondern erst dadurch, dass wir sie öffnen. Das an Kriterien der Effizienz orientierte Denken hat seinen Maßstab an der Vergangenheit und übersieht die sich bietenden Möglichkeiten jenseits der bisherigen Maßstäbe für Erfolg oder Misserfolg. Es ist nicht offen für Neues. Zukunft wird zur schlichten Verlängerung des Vergangenen.
Gerade die unabweisbare Erfahrung der Endlichkeit unseres menschlichen Lebens nötigt aber dazu, unser Handeln, Planen und Entscheiden im privaten wie im öffentlichen Raum nicht dadurch zu definieren, dass wir Dinge abschließen, sondern dass wir sie in ihren Möglichkeiten aufschließen und zur vollen Wirkung kommen lassen. Wer am Beginn seines Lebens schon weiß, was aus dem Kind werden soll, verstellt ihm den Weg ins Leben, anstatt ihn frei zu machen.
Das Leben wird statisch und verliert seine Bewegung. Das grundlegende Argument für Entscheidungen im Zusammenleben ist in dieser Perspektive: „Das war schon immer so“. Und dieses Argumentieren mit einem fixen und abgeschlossenen Weltbild findet auch dort statt, wo auf der Oberfläche dem Wandel das Wort geredet wird – aber der Maßstab gelingenden Wandels nur das Erreichen der immer gleichen Ziele unter veränderten Rahmenbedingungen ist.
Damit wird aber auch der Umgang mit Zeit ein Umgang, der immer angespannter und angestrengter wird und keine Entspannung und Gelassenheit kennt. Zeit ist dann nicht der Rahmen, in dem Neues zum Vorschein kommt, sondern die tickende Uhr, deren vorrückende Zeiger ängstlich beobachtet werden, weil sie das Vergehen des Alten markieren.
Zeit im Horizont des Osterglaubens
Auch die christliche Frömmigkeit kennt das Phänomen des Vergehens, das der Zeitlichkeit und Endlichkeit der Schöpfung eingeschrieben ist. Und sie weiß auch um den Schmerz und die Ohnmachtserfahrungen, die mit der Endgültigkeit mancher Abschiede einhergehen. Es gäbe den christlichen Osterglauben nicht ohne die Erfahrung von Karfreitag.
Das Bezeichnende des christlichen Osterglaubens ist nicht, dass er behaupten würde, nach jedem Winter käme auch wieder ein neuer Frühling oder die Zeit heile alle Wunden. Das bloße Vergehen der Zeit heilt gar nichts. Der leere Stuhl am Küchentisch ist auch im nächsten Frühjahr noch leer und der Schmerz, dass man selbst immer noch da ist, nur ohne den andern, vergeht nicht bloß deshalb, weil es schon so lange her ist.
Das Charakteristische des christlichen Osterglaubens ist vielmehr, dass in ihm die Gewissheit aufblitzt, dass zur Wirklichkeit der Schöpfung deutlich mehr gehört, als wir selbst gestalten und machen können. In diesem Glauben wird offenbar, dass das ohnmächtige Gefühl, unser Leben selbst in seinen für uns wichtigsten Bezügen nicht im Griff zu haben – Stichwort Karfreitag -, nicht zur Verzweiflung führen muss, sondern in sich auch das ohnmächtige Erleiden jenes Glücks enthalten kann, das nicht durch unser Handeln und durch unsere Wirkmächtigkeit zustande kommt, sondern uns ohne unser Zutun geschenkt wird – gerade dann, wenn unsere eigenen Wirkmöglichkeiten an ihr Ende kommen.
Der leere Stuhl am Küchentisch ist auch im kommenden Frühjahr noch leer. Und nichts wird wieder so sein wie früher. Was in der Zeit zum Vorschein kommen kann, ist nicht das vergangenen Leben, sondern ein Leben, das die Verluste und Abschiede, die zu ihm gehören, deswegen annehmen kann, weil es nicht mehr versuchen muss, das Vergangene aus eigener Kraft gegenwärtig zu halten, sondern erlebt, dass das Vergangene ohne unser Zutun gegenwärtig gehalten wird – anders, als wir es früher kannten, aber nicht minder real. Da wir die Wirklichkeit nicht geschaffen haben, können wir sie auch nicht gegenwärtig halten. Und weil wir sie nicht geschaffen haben, sind auch ihre Möglichkeiten nicht beschränkt durch das, was wir vermögen oder nicht vermögen.
Für den Osterglauben ist Zeit nicht etwas, das Vergangenes gegenwärtig hält, sondern das, was Lebensmöglichkeiten – gerade auch im Blick auf das Vergangene - eröffnet, die wir bisher gar nicht bemerkt hatten.
Theologischer Beitrag als pdf-Datei