Die Liebe zur Schöpfung – eine neutestamentliche Annäherung
Welche Rolle spielt die Nächstenliebe in einer Schöpfungstheologie in den Zeiten von Klimawandel? Ich werde diese Frage mit Hilfe der drei Evangelien von Matthäus, Markus und Lukas beantworten.
Erster Gedanke: Für Klimaschutz einzustehen setzt voraus, in allen Menschen, ja in der gesamten Schöpfung unsere Nächsten zu sehen.
In den neutestamentlichen Evangelien wird die Frage „Wer ist mein Nächster?“ in der Beispielerzählung vom Barmherzigen Samariter gestellt (Lk 10,25-37). Wichtig für die Interpretation ist eine Umkehr in der Fragerichtung: Heißt es in Vers 29 noch „Wer ist mein Nächster?“, so lautet es in Vers 36: „Wer …. ist der Nächste geworden dem, der unter die Räuber gefallen war?“ Hier wird deutlich, dass das Liebesgebot universal ausgeweitet werden soll und sich gerade nicht nur auf Menschen in Not beschränkt, sondern dass Menschen in Not diejenigen, die ihnen helfen, zu Nächsten machen.
Kein Lebewesen ist von diesem universal ausgeweiteten Liebesgebot ausgeschlossen. Wenn Menschen in fernen Regionen aufgrund des Klimawandels Not und Armut leiden, wenn Tiere aussterben, der Wald stirbt, leidet auch ein Teil von uns mit.
Zweiter Gedanke: Für Klimaschutz einzustehen setzt voraus, dass der Gedanke der Klimagerechtigkeit zum Prinzip allen Handelns und somit auch kirchlichen Handelns wird.
In den neutestamentlichen Evangelien wird die Frage nach der „besseren Gerechtigkeit“ insbesondere im Matthäus-Evangelium gestellt (Mt 5,20) und exemplarisch in der Perikope vom „Doppelgebot der Liebe“ in Mt 22,34-40 beantwortet: Matthäus fordert eine Gerechtigkeit, die am Liebesgebot orientiert ist. Interessant ist die „Realitätsnähe“ von Matthäus: Der reiche Jüngling (Mt 19,16-22) soll eigentlich auf alle Güter verzichten. Er ist dazu aber nicht in der Lage, sondern „ging betrübt davon“. Und auch das matthäische Feindesliebegebot (Mt 5,43-48) erscheint als eine fast unmöglich zu erfüllende Forderung. Nächsten- und Feindesliebe sind bei Matthäus hohe Ideale, die umzusetzen nicht einfach sind. Diese Möglichkeit der faktischen Überforderung oder des Scheiterns steht bei Matthäus im Lichte der Vergebungsbitte des Vaterunsers (Mt 6,14f) und der Aussage, nicht nur siebenmal, sondern siebzigmal siebenmal zu vergeben (Mt 18,21f).
Klimagerechtigkeit erfordert so eine neue „Ökonomie der Genügsamkeit“, die sich am Gemeinwohl aller orientiert. Eine solche ökologische und soziale Wirtschaft wird Schritte weg von der Ideologie des unbegrenzten Wachstums und der Gewinnmaximierung einzelner Unternehmen gehen müssen.
Der dritte Gedanke: Die Ausweitung unserer Liebe auf alle Lebewesen dieser Erde, die besondere Parteinahme für die Armen sowie die Befähigung zu einer stärkeren Gerechtigkeit werden durch die Nähe zur Gottesherrschaft ermöglicht.
Die Pointe der Perikope vom „Doppelgebot der Liebe“ in Markus 12,28-34 liegt in der Aussage Jesu: „Du bist nicht fern vom Reich Gottes“, die schon von Mk 1,14f her als zentrales Thema der Verkündigung Jesu zu gelten hat: „Die Gottesherrschaft ist nahe herbeigekommen.“ Der radikalen Zuwendung des schon jetzt endzeitlich handelnden Gottes zum Menschen soll eine radikale Zuwendung des Menschen zum Menschen, zu Gott und zur Mitwelt des Menschen entsprechen.
Die Gottesherrschaft ist dabei keine ferne Utopie, sondern eine konkrete Vision, die im täglichen Leben umgesetzt werden kann. Dies zeigt z.B. Michael Kopatz mit seinem Ansatz der Ökoroutinen, in dem er den achtsamen Umgang mit Ressourcen zur Regel unseres Handelns werden lässt.
Ich schließe mit einem Zitat aus dem 2. Korintherbrief von Paulus: „Der Buchstabe tötet, der Geist aber macht lebendig“ (2. Kor. 3,6):
Der tötende Buchstabe steht für eine veraltete Agenda der Lebensführung und Politikgestaltung, die nicht fähig sind, auf die ökologischen Herausforderungen unserer Zeit zukunftsfähige Antworten zu geben.
Anders der lebendig machende Geist: Er symbolisiert das Sich-Öffnen für das bislang unverfügbar Scheinende, einen Weg der internationalen Gerechtigkeit und Solidarität, den Weg einer globalen Friedens- und Nachhaltigkeitskultur – und den kleinen Pendants dieser großen Worte im täglichen Leben eines jeden und einer jeden von uns. Wir alle wissen, dass wir diese neuen Wege einschlagen sollten, aber es ist „der Geist willig, aber das Fleisch schwach“. Damit können wir produktiv umgehen, wenn wir uns als von Gottes Energie bewegte Menschen begreifen und die damit verbundenen Möglichkeiten gemeinsam ergreifen – im Bewusstsein, scheitern zu können, aber in allem sich von der Liebe Gottes getragen wissend.
Von: Pfarrer Dr. Hubert Meisinger, Zentrum Gesellschaftliche Verantwortung der EKHN