Mein Zukunfts-Ich wird das Ding schon schaukeln?! Die Rolle der Selbstwirksamkeitserwartung im Umgang mit Krisen
von: Katharina Adams, Referat Jugendpolitische Bildung, k.adams@zgv.info
Corona-Pandemie, Klimawandel, Inflation, Ukraine-Krieg, Nahost-Krieg – eine schier endlose Aneinanderreihung krisenhafter Ereignisse führt für viele Menschen zu einem „Dauerkrisen-Modus“. Dieses Gefühl ist für viele Jugendliche in ihrem bisherigen Leben eher der Normal- als ein Ausnahmezustand. Im Umgang mit Krisen sind selbstwirksames Handeln und die zukünftige Erwartung über dessen Erfolg elementar. Wie kann dies im „neuen Normal“ gelingen - und welche Rollen kommen hierbei gesellschaftspolitischer Jugendbildung und Kirche zu?
Schaffen wir das (überhaupt noch)?
Vor uns allen stehen unabdingbare gesellschaftliche Transformationsprozesse, die heutige junge Menschen und zukünftige Generationen lange begleiten werden. Hierfür braucht es einen langen Atem und gesellschaftlichen Zusammenhalt. Ob Klimakrise oder Kriege: Zweifel, Down-Phasen und die Frage, ob das alles zu bewältigen ist, sind normal und erlaubt. Der skeptischen Frage des „ob“ kann die Frage nach dem „wie“ entgegenwirken, und aus einem lähmenden Tief heraushelfen. Hierauf können initial auch erst einmal keine Ideen, Stille und die Antwort „Ich weiß es nicht“ folgen. Spannend wird es im Anschluss, wenn Gedanken und Ideen ihren Platz finden und gemeinsam diskutiert werden. In diesem Zwischenraum, von Ratlosigkeit zu konkreten Umsetzungsideen, bringt die Erwartung, selbstwirksam handeln zu können, den nötigen Optimismus und das Vertrauen in sich selbst, um überhaupt erst kreative Ideen zu entwickeln. Folglich braucht es im ersten Schritt die entsprechenden positiven Erfahrungen der eigenen Selbstwirksamkeit. Bleiben diese aus oder sind nicht ausreichend vorhanden, kann Ohnmacht die Überhand behalten. Daher gilt: Um die Zukunft aktiv zu gestalten und sich gesellschaftlich einzubringen, braucht es den Glauben an die eigenen Handlungs- und Gestaltungsmöglichkeiten und entsprechende Orte, um sich frei auszuprobieren und positive Erfahrungen zu sammeln.
Selbstwirksamkeitserwartung is key!
Im Umgang mit Krisen braucht es resiliente Menschen, Gesellschaften und Systeme. Dem Leibniz-Institut für Resilienzforschung (LIR) zufolge ist Resilienz „die Fähigkeit zur Aufrechterhaltung oder Wiederherstellung psychischer Gesundheit während oder nach stressvollen Lebensereignissen“ (1) und erlernbar. Es gibt verschiedene Resilienzfaktoren, von denen die Selbstwirksamkeitserwartung, besonders „unter chronisch belastenden Lebensbedingungen oder bei kritischen Lebensereignissen“ (2), von entscheidender Bedeutung ist. Im heutigen Dauerkrisenmodus ist dies folglich elementar für gesunde Individuen und eine starke Gesellschaft. Konkret wird unter Selbstwirksamkeitserwartung „die subjektive Erwartung verstanden, herausfordernde Situationen aus eigener Kraft bewältigen zu können. Stressreiche Ereignisse und Situationen werden eher als Herausforderung gesehen und nicht so sehr als Bedrohungen. Menschen mit einer hohen Selbstwirksamkeitserwartung sehen sich nicht als Opfer, sondern als Schöpfer ihrer Welt. Sie wissen, dass sie Einfluss auf die Welt nehmen können.“ (3). Für uns als Gesellschaft bedeutet dies: Selbstwirksamkeitserfahrungen sind in einer Demokratie wesentlich. Deshalb ist es von entscheidender Bedeutung, Kinder und Jugendliche hierin zu stärken. Durch viele Übungsmöglichkeiten mit Erfahrungen des Erfolges und auch des Scheiterns bauen sie ein Erfahrungsfundament an frühen Erlebnissen selbstwirksamen Handelns auf. Herausforderungen und Schwierigkeiten gehören zum Leben wie die Erkältungswelle zum Winter. Laut Dr. Isabella Helmreich, Leiterin des Bereichs „Resilienz und Gesellschaft“ des LIR, ist das Training der menschlichen Psyche mit dem des Immunsystems vergleichbar: So wie unser Immunsystem immer wieder neue Viren kennenlernt und sich weiterentwickelt, ist es auch gesund für die menschliche Psyche, immer wieder mit Herausforderungen mittleren Maßes konfrontiert zu werden. Mit jeder bewältigten Krise lernen wir etwas Neues über uns und unser Umfeld und entwickeln neue Bewältigungsstrategien. Auch erst einmal zu scheitern und dann wieder (anders) weiterzumachen, schult uns und unsere Fähigkeiten (4). Dank Krisen können wir uns folglich weiterentwickeln. Es geht laut Helmreich bei Resilienz gerade nicht darum, Probleme wie an einer Teflon-Pfanne an uns abprallen zu lassen, sondern uns zu verändern und im besten Fall mit neuen Kompetenzen gestärkt aus der Krise herauszugehen (5). Dies gilt nicht nur für Individuen, sondern auch für diverse gesellschaftliche Systeme. Resilienz muss daher nicht nur ein Zurückspringen in den Normalzustand vor der Krise sein (bounce back), sondern kann auch eine positive Weiterentwicklung an zukünftige Gegebenheiten sein (bounce forward) (6). In Krisen steckt daher gestalterisches Potential, das langfristig unsere Zukunftsfähigkeit sichert.
Gesellschaft zukunftsfähig gestalten: Politische Jugendbildung ist unerlässlich
Wie gehen Jugendliche mit derzeitigen Krisen um? Welche Faktoren schützen vor psychischen Belastungen? Und wie kann außerschulische politische Jugendbildung junge Menschen in ihrer Handlungs- und Kompetenzerfahrung unterstützen? Diese Fragen sind zentral, wenn es um die zukunftsfähige Gestaltung unserer Gesellschaft geht. Viele junge Menschen fühlen sich mit ihren Anliegen und Interessen in der Politik zu wenig vertreten, was bei einigen zu einem verstärkten politischen Engagement und bei anderen zu einem Rückzug führt (7). Aufgabe von politischer Jugendbildung ist es, alle jungen Menschen zu erreichen und ihnen geschützte Räume anzubieten, in denen sie frei ihre Kompetenz-, Gestaltungs- und Handlungsfähigkeiten ausprobieren können – und so Selbstwirksamkeitserfahrungen sammeln. Zudem werden sie dabei unterstützt, eine reflektierte Haltung zu Dilemmata und Spannungsfeldern komplexer Thematiken zu entwickeln und beständig weiterzuentwickeln.
Kirche bietet zweckfreie Erfahrungsräume und Gemeinschaft
Als Trägerin gesellschaftspolitischer Jugendbildung kommt Kirche eine entscheidende Rolle zu. Zweckfreie, d. h. frei gestaltbare (Zeit-)Räume, sind wichtig, um sich auszuprobieren, Fehler zu machen, sich auszutauschen, Hindernisse zu überwinden und zu wachsen. Während der diesjährigen Vollversammlung der Ev. Jugend in Hessen und Nassau (EJHN e. V.) im Herbst fand ein Barcamp mit dem Thema „Insert Topic. Hier könnte dein Thema stehen.“ statt. In diesem Format gibt es kein festgelegtes Programm, sondern freie Zeitslots, die von den Teilnehmenden mit Themen gefüllt wurden: Landtagswahl in Hessen, Rudelsingen, Infos zur Synode, Kickerturnier, Frieden, TikTok in der Kirche, Gott* liebt queer und Klimaschutz – dieser Auszug der Themenvielfalt zeigt, wie wichtig es ist, junge Menschen zu fragen „Was interessiert dich?“ und ihnen zuzuhören. So erleben Jugendliche Kirche als mitgestaltende gesellschaftliche Kraft, die sie und ihre Themen ernst nimmt. Viele verbinden so ihre Selbstwirksamkeitserfahrungen mit Kirche und der Gemeinschaft. Erfahrungen des Nicht-Gehört- und Nicht-Ernstgenommen-Werdens demotivieren dagegen eher. Wenn Kirche und Gesellschaft die Stimmen junger Menschen hören und ernst nehmen, ihnen freie Gestaltungs- und Erfahrungsräume bieten, an sie glauben und sie vor allem mitbestimmen lassen, dann sind und bleiben Kirche und Gesellschaft zukunftsfähig. Wenn wir jetzt damit anfangen, werden die Zukunfts-Ichs künftiger Generation das Ding schon gut schaukeln.
[1] Leibniz-Institut für Resilienzforschung (LIR) (o. J.): Resilienz. URL: https://lir-mainz.de/2020-resilienzfoerderung-was-steckt-hinter-dem-bergriff. (Abrufdatum: 30.11.2023).
[2] Leibniz-Institut für Resilienzforschung (LIR) (o. J.): Selbstwirksamkeitserwartung. URL: https://lir-mainz.de/2020-resilienzfoerderung-selbstwirksamkeitserwartung. (Abrufdatum: 30.11.2023).
[3] Ebd.
[4] Siniawski, Adalbert (2023): Krisen und Resilienz. Mit Selbstwirksamkeit gegen die Ohnmacht. Deutschlandfunk-Interview mit Dr. Isabella Helmreich. URL: https://www.deutschlandfunk.de/gesellschaft-im-dauerstress-isabella-helmreich-resilienzforscherin-dlf-dcf561cc-100.html. (Abrufdatum: 30.11.2023).
[5] Ebd.
[6] Roth, Florian (2020): Bouncing forward – Wie Erkenntnisse aus der Resilienzforschung in der Corona-Krise helfen können. URL: https://www.isi.fraunhofer.de/de/blog/2020/resilienz-corona-krise.html. (Abrufdatum: 30.11.2023).
[7] GEMINI (2023): Politische Jugendbildung für die sozial-ökologische Transformation. Positionspapier der „Gemeinsamen Initiative der Träger Politischer Jugendbildung“ (GEMINI) im Bundesausschuss Politische Bildung (bap e.V.). Von Krisenerfahrungen zur Zukunftsgestaltung. URL: https://www.demokratiestaerkerinnen.de/aktuelles/452-politische-jugendbildung-fuer-die-sozial-oekologische-transformation-positionspapier-der-gemeinsamen-initiative-der-traeger-politischer-jugendbildung-gemini-im-bundesausschuss-politische-bildung-bap-e-v. (Abrufdatum: 30.11.2023).