„Hanau erinnern.“: Die Wut und Trauer in etwas Produktives verwandeln
Anlässlich des zweites Jahrestags des rechten Anschlags in Hanau fand am 18. Februar 2022 eine Online-Veranstaltung statt mit dem Titel „Hanau erinnern. Kirchliche Akteur*innen im Einsatz gegen Rassismus und Rechtsextremismus“. Es nahmen mehr als 70 Menschen aus verschiedenen Organisationen und Netzwerken teil.
Organisiert wurde die Veranstaltung von der Bundesarbeitsgemeinschaft Kirche und Rechtsextremismus (BAG K+R), dem Projekt Demokratie stärken im ZGV der EKHN, dem interreligiösen Projekt „Weißt du, wer ich bin?“ und Einzelpersonen.
Das Gespräch wurde durch eine kurze Vorstellung der Bildungsinitiative Ferhat Unvar durch Ali Yildirim eröffnet. Yildirim ist ein Jugendfreund von Ferhat Unvar, der beim Anschlag von Hanau ermordert wurde. Er wusste um die Kontinuität rechter Gewalt in Deutschland, aber konnte sich als „Hanauer Bub“ nie vorstellen, dass es seine Stadt und seine Mitmenschen treffen würde. Die Initiative gründete sich am 14. November 2020, dem Tag, an dem Ferhat 24 Jahre alt geworden wäre. Durch die bildungspolitische Arbeit versuchten seine Angehörigen und Freund*innen ihre Wut und Trauer in etwas Produktives zu verwandeln. Sie wollten in Ferhats Namen etwas für alle Opfer rechter Gewalt tun.
Die Bildungsinitiative ist heute als migrantische Selbstorganisation im Bildungsbereich tätig und gibt nach dem peer-to-peer Prinzip Workshops an Schulen. Dabei geht es neben dem Anschlag am 19. Februar auch um rassistische Sprache und Rassismus im Allgemeinen. Yildirim hob dabei den Empowerment-Aspekt hervor: Er selbst hatte sich bereits abgefunden mit seinen eigenen Rassismuserfahrungen und bekam erst durch die Gründung der Bildungsinitiative wieder Kraft, dagegen vorzugehen. Hanau ist für sie eine Zäsur, welche zur sofortigen Prävention von Rassismus und der Thematisierung der Kontinuitäten aufrufe. Laut Yildirim habe die Gesellschaft zu lange weggeschaut: „Es wird lange dauern, diese Suppe auszulöffeln, aber irgendwann müssen wir damit anfangen.“ Klar sei, dass dies strukturell geschehen müsse. So suche die Bildungsinitiative das Gespräch mit Behörden und Schulvertreter*innen, um antirassistische Themen in der Lehrerausbildung und den Lehrplänen zu verankern. Auch die Arbeit der Initiative selbst sollte langfristig staatlich finanziert werden. Abschließend rief Herr Yilidirim dazu auf, sich für eine Gesellschaft einzusetzen, in der struktureller Rassismus strukturell angegangen wird.
Die zweite Gesprächsteilnehmerin war Dr. Beate Hofmann. Sie ist seit 2019 Bischöfin der Evangelischen Kirchen von Kurhessen-Waldeck (EKKW). Sie nimmt viel Engagement gegen Rassismus und Rechtsextremismus wahr, aber wenig koordiniertes Handeln. In der EKKW habe sie noch wenige Wochen vor dem Anschlag in Hanau einen Runden Tisch gegen Rechtsextremismus gegründet. Die Aufgabe von Kirchen sieht Hofmann erstens in einer klaren Positionierung. Diese müsse über Öffentlichkeitsarbeit hinausgehen und sich im kompletten Spektrum der kirchlichen Bildungsarbeit ausdrücken, um Rassismus zu verlernen und die Diversitätskompetenz zu stärken. Zweitens sieht sie eine Aufgabe im Schaffen von Schutz für Menschen, die durch Hatespeech auf Social Media und außerhalb davon von rechtsextremer Gewalt bedroht sind. Als dritten und letzten Punkt nannte Hofmann die zusätzlichen Möglichkeiten, welche gerade Kirchen im Abbau von Vorurteilen hätten. Der vielfaltsbasierte Ansatz sei dabei eine Chance, überhaupt mit rechtsaffinen Menschen ins Gespräch zu kommen.
Als letztes sprach Antje Heigl, Sozialarbeiterin im evangelischen Jugendzentrum k.town in Hanau-Kesselstadt. Viele der Opfer des Anschlags und ihre Freund*innen waren und sind regelmäßige Besucher*innen des Jugendzentrums. Heigl beschrieb eindringlich den gemeinsamen Trauerprozess der letzten zwei Jahre, welcher durch Corona unterbrochen wurde, da die Einrichtung zeitweise schließen musste. Handlungsfähigkeit erlangten die Jugendlichen u.a. durch die Organisation eines eigenen Gedenkens. Im Laufe eines halben Jahres entwickelten sie eine Gedenktafel mit bunten, selbst gestalteten Bildern. Sie einte die Überzeugung „Wir lassen uns unsere positiven Dinge nicht von einem rassistischem Mörder kaputt machen“. Gemeinsam bauten sie eine lang geplante Überdachung, um sich auch außerhalb der Öffnungszeiten im Trockenen treffen zu können und gaben k.town einen neuen Farbanstrich.
In der anschließenden Diskussion wurden die Gemeinsamkeiten im Einsatz gegen Rassismus, aber auch die unterschiedlichen Ausgangspunkte hervorgehoben. Ali Yildirim machte deutlich, dass die Sensibilisierung für das Thema so früh wie möglich ansetzen sollte, damit die Kinder und Jugendlichen selbst erkennen, warum Rassismus falsch ist. Dafür müssten aber gerade die Kontinuitäten nach dem Nationalsozialismus stärker herausgearbeitet werden und das Wissen über Anschläge wie in Mölln 1992 oder den NSU-Komplex stärker verbreitet werden.
Antje Heigl unterstütze die Forderung der Bildungsinitiative nach einer Revision von Lehrplänen. Das System Schule sei sehr geschlossen und müsse sich hier öffnen. Zur Frage der Finanzierung der Bildungsarbeit führte sie aus: „Die Arbeit der Initiative gehört in Ministerien, das alles ist ein Anstoß, der aber auf die hohe politische Ebene gehört, denn das Problem des Rassismus ist nicht durch Projekte lösbar, die, wenn es gut läuft, für drei Jahre finanziert sind.“ Auch in ihrem Jugendzentrum sei die langfristige Finanzierung derzeit nicht gesichert.
Beate Hofmann sieht eine kirchliche Aufgabe im Bereitstellen von Erfahrungsräumen. In der Begegnung von Mensch zu Mensch könnten Vorurteile revidiert werden: „Begegnungen und Netzwerke wie der Runde Tisch gegen Rechtsextremismus und die Initiative Offen für Vielfalt –Geschlossen gegen Ausgrenzung sind erste Schritte der Aktivierung. Ihnen muss ein zweiter folgen, der nach den Ursachen von Rassismus fragt. Hier müssen wir sprechen über weiße Prägungen und den deutschen Kolonialismus.“
Im Anschluss hatten alle Teilnehmer*innen die Möglichkeit, sich in kleineren Austauschrunden vertiefend zu unterhalten. Zusammen mit Bischöfin Hofmann wurde überlegt, was die (Landes)Kirche tun kann und mit Ali Yildirim wurde gemeinsam über mögliche und existierende Formate der Erinnerung an rechtsterroristische Anschläge gesprochen. In zwei weiteren Austauschrunden sprachen Matthias Blöser vom Zentrum Gesellschaftliche Verantwortung, Johannes Krug von der EKHN und Pfarrerin Katrin Kautz aus Hanau mit den Teilnehmer*innen über Engagement im kirchlichen Raum, während Antje Heigl in ihrer Gruppe noch einmal darüber sprach, wie evangelische Räume verantwortungsvoll und rassismuskritisch eingerichtet werden können.
von: Johannes Krug, Vikar in der EKHN
Spendenkonto Bildungsinitiative Ferhat Unvar