Innenstadt als Reallabor entwickeln
WIRTSCHAFTLICHER WANDLUNGSPROZESS: Es ist Ende März 2020. Lockdown. Geisterstimmung in den Einkaufsstraßen von Darmstadt, Michelstadt, Mainz und Worms. Auf einmal war sie da, die Situation, die viele bereits seit Jahren immer wieder prophezeit hatten. Die Zukunft der europäischen Stadt, wie wir sie kennen und schätzen gelernt haben, steht von einem Tag auf den anderen zur Diskussion. Nicht mehr theoretisch und in Lehrveranstaltungen von Hochschulen oder in Referaten im Geografieunterricht der zehnten, elften oder zwölften Klasse, sondern real, vor unserer Haustür und an jedem Küchentisch zuhause bei den Familien, die ihren Lebensunterhalt im Handel verdienen.
von: Dr. Daniel Theobald, Dr. Marina Hofmann, IHK Darmstadt Rhein Main Neckar, und Tim Wiedemann, IHK für Rheinhessen, Worms„Und heute ist es uns allen offenbar: Der Einzelhandel hat seine Funktion als Frequenzbringer für die Zentren verloren.“ Dr. Daniel Theobald Die Corona-Pandemie hat jedem von uns gezeigt, unter welch enormem Druck unsere Innenstädte und Ortskerne stehen. Seit März 2020 haben wir ein Gefühl dafür entwickeln können, dass es um mehr geht als nur ein paar Schaufenster, die man einfach nur umdekorieren muss. Es geht um einen grundlegenden Stadtumbau, einen strukturellen Transformationsprozess, der uns alle betrifft. Warum? Weil es kein Selbstzweck ist, eine schöne Innenstadt oder ein attraktives Ortszentrum zu haben. Diese Zentren haben schon immer ganz bestimmte Funktionen, auch wenn die sich von Generation zu Generation immer wieder gewandelt, weiterentwickelt haben.
Leere Schaufenster in Bestlagen
Zu Beginn des 20. Jahrhunderts hat man zu gleichen Teilen im Zentrum gearbeitet und Handel betrieben, also eingekauft. Auch gewohnt wurde wesentlich häufiger mittendrin, statt in reinen Wohngebieten in Stadtrandlagen. In den 1950er- und 1960er-Jahren war der Handel, das Einkaufen, bereits die dominierende Funktion und in den 1990er-Jahren spielten die Funktionen Wohnen, gesellschaftliche Teilhabe und Kultur eine untergeordnete Rolle. Umgekehrt kann man sagen: In unseren Innenstädten wurde gehandelt, Geld umgesetzt, und das Flanieren, Bummeln und der Samstagsausflug in der Innenstadt hatten bei vielen Familien einen festen Platz im Wochenplan.Dass das schon lange nicht mehr so ist, war uns vor der Corona-Pandemie schon unterschwellig klar. Auch, dass damit an vielen Orten das Geschäftsmodell für zahlreiche stationäre Einzelhändler nicht mehr auskömmlich funktionierte. Weihnachtsmarkt in Michelstadt (Foto: Sina Ettmer - AdobeStock)
Und heute ist es uns allen offenbar: Der Einzelhandel hat seine Funktion als Frequenzbringer für die Zentren verloren. Der Handelsverband Deutschland (HDE) Standortmonitor zählte zwischen 2010 und 2019 39.000 Geschäftsaufgaben von stationären Einzelhändlern in deutschen Innenstädten. Und in diesem Jahr sind leere Schaufenster von großen Filialisten in Bestlagen von Großstädten auch in wirtschaftsstarken Regionen wie FrankfurtRheinMain oder Rhein-Neckar keine Seltenheit mehr. Das alles ist aber nicht nur Folge von Corona, sondern auch von einem stetigen Anstieg des Onlinehandels. Bis 2024 prognostiziert das Institut für Handelsforschung an der Universität zu Köln (IFH) einen Anteil des Onlinehandels am Einzelhandelsumsatz von 16,5 bis 19,4 Prozent. In Euro ausgedrückt könnte der Onlinehandel Umsätze zwischen 120 und 141 Milliarden pro Jahr erwirtschaften (vgl. Branchenreport Onlinehandel 2020). Im Jahr 2020 waren es noch 83 Milliarden Euro, 20 Jahre davor weist die Statistik lediglich eine Milliarde Euro Einzelhandelsumsatz im Onlinehandel aus (vgl. Statista). Es geht also nicht mehr um die Frage, ob das ein oder andere neue Gastronomiekonzept reicht, um Frequenz in den Ortskernen zu erzeugen, und ob diese Frequenz auch den Gastronomen reicht, um die bis dato sehr teuren Mieten in den 1A-Lagen zu zahlen. Wir reden über etwas Grundsätzlicheres: Wir müssen die Innenstadt neu erfinden, und zwar gemeinsam!
„Wir sind also mittendrin in einem Wandlungsprozess, einer Transformation unserer Innenstädte. Diese Entwicklung gilt es mit Innovation und Mut nicht nur anzunehmen, sondern zu gestalten.“ Dr. Marina Hofmann
Leerstände als Chance begreifen
Wir sind also mittendrin in einem Wandlungsprozess, einer Transformation unserer Innenstädte. Diese Entwicklung gilt es mit Innovation und Mut nicht nur anzunehmen, sondern zu gestalten. Das betrifft alle Innenstadtakteure: Unternehmer*innen, Stadt/Kommunalverwaltung, Immobilienbesitzer*innen und die Nutzer*innen. Es ist eine gesellschaftliche Frage geworden. Müssen wir also in Panik verfallen, wenn sich wieder ein Leerstand ankündigt? Auch wenn es kein schöner Anblick ist: Wir sollten jeden Leerstand vor allem auch als Chance begreifen und nicht gelähmt vor den ausgeräumten Schaufenstern stehen. Aus einer Chance und einer positiven Einstellung lässt sich Zukunft gestalten. Dafür braucht es mittel- bis langfristig angelegte Entwicklungskonzepte für die Innenstädte und Ortskerne, mit einem Fokus auf Multifunktionalität und unter Berücksichtigung von Alternativnutzungen zum Handel. Angebote aus der Gastronomie, der Event- sowie Freizeit-, Tourismus- und Kongressbranche, der Kultur, der Hotellerie und der Wohnnutzung gilt es intelligent in die Konzepte zu integrieren. Ein Konzept ist aber noch keine gebaute Zukunft, die gesellschaftlich akzeptiert wird. Eine Stadt, eine Kommune ist gut beraten, weitere Akteure wie Unternehmen, IHKs oder Immobilien- und Standortgemeinschaften eng einzubinden und frühzeitig anzusprechen. Entscheidend wird es auch sein, Immobilieneigentümer*innen in die geplanten Prozesse einzubinden und davon zu überzeugen, dass die kurzfristige Gewinnmaximierung genauso wenig nachhaltig ist wie langjährige Leerstände in guten Innenstadtlagen. Es geht also um eine Art Selbstverpflichtung und Eigenverantwortung der betroffenen Akteure, die für den Erfolg von Entwicklungs- und Aufwertungsprojekten wichtig ist. Dabei werden wir zunehmend nicht einzelne Objekte, sondern ganze Quartiere in den Blick nehmen müssen und neue Nutzungskonzepte in einer Art Reallabor Innenstadt ausprobieren. Damit ist gemeint, dass es Modellvorhaben geben muss, um die Funktionen Wohnen, Leben und Arbeiten neben Kunst, Kultur und den altbekannten Nutzungen Handel und Gastronomie vor allem baurechtlich miteinander in Einklang zu bringen. Damit sprechen wir auch über ein geschärftes Problemverständnis der Immobilieneigentümer*innen und der Akzeptanz von neuen und alten Bewohner*innen in nutzungsgemischten innerstädtischen Quartieren. Innovation heißt auch, dass man sich mal irren kann. Das ist aber etwas Gutes, wir können daraus lernen. Mainz, Domplatz (Foto: Sina Ettmer - AdobeStock)In diesem Reallabor Innenstadt muss nicht jede Idee und jeder kleine Umbau gleich für die Ewigkeit sein. Ganz im Gegenteil: Filialisierte Einkaufsstraßen zeigen uns, wenn wir ehrlich sind, schon lange, dass diese Art Stadt oder Ortszentrum ausgedient hat. Wir empfinden es heute wenig städtebaulich attraktiv, überall gleich und wenig kreativ. Dass dieser Reallabor-Charakter bereits heute und auch in kleinen, ländlichen Strukturen greifen kann, wissen wir schon länger. Pop-up-Stores oder Pop-up-Gastronomie finden in Leerständen oder attraktiven städtebaulichen Nischen ihren Platz, und vor allem auch Kund*innen. Die Konzepte funktionieren und locken auch Gäste aus den Großstädten „aufs Land“, wie Beispiele aus Erbach und Michelstadt im Odenwald mit Pop-up-Biergärten oder -Museen eindrucksvoll unter Beweis gestellt haben. Aber auch tradiert daherkommende Standort- oder Werbegemeinschaften müssen nicht immer antiquar sein, und eine Einkaufsstraße kann auch heute noch funktionieren. Im Fall der Schulstraße in Darmstadt kann man sehen, wie Tradition und Moderne hervorragend nebeneinander funktionieren. Für Tradition stehen einfache, aber handwerklich hervorragende regionale/saisonale Gastronomie, Bioladen und Bäcker oder auch ein Fahrradladen. Für Moderne stehen Sneakerläden und hochwertige, ausgewählte und natürliche Männerpflegeprodukte.
„In Worms haben sich verschiedene Akteure […] auf den Weg gemacht, eine gemeinsame Vision für die Wormser Innenstadt der Zukunft zu erarbeiten und diese auch mit konkreten Maßnahmen zu begleiten.“ Tim Wiedemann
Kunden auch zuhause abholen
Beide Einzelhandelskonzepte belegen, dass man mit erfolgreichen Onlinegeschäften auch vor Ort ein Zeichen setzen kann, das nicht nur gestalterisch wirkt, sondern auch in die digitale Welt reicht, indem es die Kund*innen dort abholt, wo sie sind – zuhause – und ihnen ein attraktives Angebot macht. Der Einkauf, der Shop, das Erlebnis vor Ort kann es also auch heute noch wert sein, die Couch zu verlassen. Auch die Nutzung von Leerständen spielt für Innenstädte eine wichtige Rolle. Wie das „LuLu“ in Mainz zeigt, sind auch Zwischennutzungen mit einer klaren Positionierung mit lokalem und regionalem Handel und Produkten eine Chance zur Belebung der Innenstadt. Das „LuLu“ bietet in den Räumen eines ehemaligen großen Kaufhauses in zentraler Lage in der Mainzer Innenstadt einen Nutzungsmix aus Kultur, Events, Handel und Gastronomie. Zentral für den Erfolg der Innenstadt von morgen wird es sein, eine gemeinsame Idee aller Innenstadtakteure für „ihre“ Innenstadt zu finden. So haben sich beispielsweise in Worms verschiedene Akteure aus Handel, Gastronomie, Kultur, Tourismus, Events sowie der Stadtverwaltung, des Stadtmarketingvereins und der IHK auf den Weg gemacht, eine gemeinsame Vision für die Wormser Innenstadt der Zukunft zu erarbeiten und diese auch mit konkreten Maßnahmen zu begleiten.Es geht also. Innenstadt kann auch in Zukunft noch einen Wert haben. Es lohnt sich, darüber nachzudenken, wofür der Weg ins Ortszentrum auch in Zukunft noch gerne und regelmäßig gegangen wird. Klar ist aber auch, dass sich die Innenstädte nicht von alleine oder nur marktgetrieben neu erfinden werden. Zumindest nicht so, dass sie in der Breite akzeptiert werden. Wir sind am Anfang eines Prozesses, in dem wir uns alle gemeinsam als Innenstadtakteur*innen begreifen können und den wir aktiv mitgestalten dürfen. Wie das aussehen kann, das sehen wir an vielen Orten. Es werden Fördergelder von Bund und Land ausgelobt, Innenstadtbudgets und Innenstadtlotsen eingestellt. Mit Heimatshoppen unterstützen die Industrie- und Handelskammern (IHK) bundesweit Aktionen rund um die Innenstadt und machen positiv auf den stationären Einzelhandel, aber auch auf den Wert unserer Ortskerne als Treffpunkt und Platz des Austausches aufmerksam. Dass es dabei aber auch um konsumferne Nutzungen gehen kann und wir als IHK auch gerne bereit sind, die bereits gestellten grundsätzlichen Fragen gemeinsam zu diskutieren, zeigen Projekte in Kooperation mit der Hochschule Darmstadt und der Schader Stiftung in Darmstadt. In einem über ein halbes Jahr angelegten Prozess erarbeiten wir gemeinsam mit Bürgermeister*innen, Gewerbevereinen und weiteren Innenstadtakteur*innen und unter wissenschaftlicher Begleitung Szenarien zur Zukunft von Innenstädten und Ortszentren der Region Rhein Main Neckar. In kleineren Projekten arbeiten wir zudem mit Studierenden zusammen, um kreative, aber realistische, da zeitnah realisierbare Lösungen für die gestalterische Aufwertung des öffentlichen Raums zu erarbeiten. In Dieburg zum Beispiel wurden die Entwürfe der Studierenden nicht nur auf dem Marktplatz ausgestellt und diskutiert, sondern auch gemeinsam mit Politik erörtert. Mit sogenannten Innenstadtbänken wollen wir vor Ort etwas bewegen. Entwürfe und die außergewöhnlichen Bänke selbst wurden im Rahmen einer Lehrveranstaltung der Hochschule von Studierenden selbst realisiert. Die Ergebnisse lassen sich zum Beispiel in Darmstadt, Groß-Gerau, Bensheim oder Erbach ausprobieren und haben in den seltensten Fällen etwas mit einer gewöhnlichen Parkbank zutun. Die Idee dahinter ist simpel: Die Leute sollen sich Gedanken machen, sich fragen „Was ist das hier eigentlich?“ und darüber ins Gespräch kommen. Die Hoffnung dabei ist natürlich, dass damit auch immer ein Stück Selbstreflektion verbunden ist und sich das Gespräch um die Innenstadtbank Stück für Stück zu einem strukturierten Diskurs um die Zukunft der Innenstadt erwächst. Oder es entwickelt sich hier und da eine Bewegung, die in Leerständen mutig ausprobiert, was das Ortszentrum der Zukunft denn an Nutzungen gebrauchen könnte. Dom St. Peter zu Worms (Foto: Mathias Weil - AdobeStock)