Sterben unsere Innenstädte? Neue Nutzungsmöglichkeiten als Chance
HINTERGRUND: Sind Sie letztes Wochenende „in der Stadt“ gewesen? Ich habe den Sonnenschein genutzt, um durch die Innenstadt von Frankfurt zu schlendern. Auf den ersten Blick ist alles wie früher. Menschenmassen schieben sich durch die Zeil, Touristen bewundern den Römer, und die Freisitze der Cafés und Restaurants sind gut gefüllt.
Doch einiges hat sich verändert. Hier und dort ist ein Leerstand dazugekommen, gerade in den Randlagen. Und die Händler beklagen trotz voller Straßen geringe Umsätze. Ist doch etwas dran an dem Sterben der Innenstädte, das im Zuge der Corona-Pandemie in allen Medien diskutiert wurde? Oder steht den Stadtzentren „nur“ eine grundlegende Transformation bevor?
„In einem ‚Lebensraum Innenstadt‘ bedarf es jedoch künftig einer lösungsorientierten Auseinandersetzung mit den sozialen Konflikten. Dazu muss die integrative Kraft der Innenstädte, insbesondere ihrer öffentlichen Räume, als Begegnungsort für alle gesellschaftlichen Gruppen gestärkt werden.“ Stefan Heinig
Begriffsklärung
Worüber reden wir eigentlich, wenn wir von Innenstädten, Stadtzentren oder Stadtkernen sprechen? Dafür gibt es unterschiedliche Zugänge. Meist ist das Stadtzentrum der Bereich, der früher von den Stadtmauern umschlossen wurde, also der historische Stadtkern. In vielen Städten gibt es die Stadtmauern heute nur noch in Fragmenten, aber die Grenze lässt sich noch durch eine breite Ringstraße oder einen Grüngürtel erkennen. Denn mit dem Wachstum der Städte wurden im 19. Jahrhundert viele alte Wallanlagen geschliffen. Es entstand Platz für neue Nutzungen, vor allem für die damals neuen Formen des Verkehrs. Und so sind heute viele Stadtzentren umschlossen von einem eher trostlosen und für Fußgänger nur schwer zu überwindenden Verkehrsraum. Mit der historischen Entwicklung hängt auch ein kultureller Bedeutungsüberschuss der Innenstädte zusammen. Die Stadtzentren beherbergen die Rathäuser als Orte der Repräsentation und lokalen Demokratie, große Kulturhäuser wie Theater, Oper und Museen, aber auch historisch bedeutsame Orte und Gebäude. Sie ermöglichen dadurch Identifikation und Verbundenheit für die Bewohnerschaft der Stadt und der umliegenden Region. Gleichzeitig sind sie soziale Räume, in denen (fast) alle Bevölkerungsgruppen zusammenkommen. Ein weiterer Zugang zum Thema bietet sich mit Blick auf die amerikanischen Städte an. Dort ist die Innenstadt – die „Downtown“ – in der Regel der Bereich mit den höchsten Bodenpreisen. Das spiegelt sich in den meisten Städten in der Bebauung wider, denn angesichts des ökonomischen Drucks wird immer höher gebaut. Die Downtown ist also schon von Weitem als Ansammlung von Hochhäusern erkennbar. Auch in den deutschen Innenstädten sind die Bodenpreise besonders hoch. Allerdings wird dies meist weniger an Hochhäusern, sondern an einer hohen Dichte der Bebauung deutlich.Zur Rolle des Einzelhandels
Die hohen Bodenpreise haben in deutschen Städten auch zu Konzentration von Einzelhandelsnutzungen in sogenannten „1A-Lagen“ der Innenstädte geführt, da der Einzelhandel bisher höchste Mietpreise zahlen konnte. Dabei wurden ortsansässige Geschäfte in den vergangenen Jahren immer mehr von finanzkräftigeren Filialisten verdrängt. Diese Dominanz des Einzelhandels in den Innenstädten war nicht immer so. Schauen wir rund 100 Jahre zurück, wurden die Stadtzentren relativ gleichberechtigt durch mehrere Funktionen geprägt: Einkaufen, Arbeiten, Wohnen, Repräsentation und demokratische Teilhabe, aber auch Kultur und Gemeinschaft. Doch Schritt für Schritt wurde der Einzelhandel dominanter, während Wohnen, Repräsentation und Teilhabe verdrängt wurden. Einen wesentlichen Einfluss auf diese Entwicklung hatte die Schaffung von Fußgängerzonen in den Innenstädten ab 1953. Der Raum zum gefahrlosen Bummeln entlang der Schaufenster führte zur Konzentration des Handels in diesen Lagen und stark steigenden Preisen. Deshalb ist selbst Gastronomie kaum noch in Fußgängerzonen zu finden.Neue Nutzungsmischung
Vor diesem Hintergrund ist die aktuelle Diskussion um die Zukunft der Innenstädte getrieben von den Entwicklungen im Handel, der besonders von der Pandemie und dem damit verbundenen Lockdown betroffen ist. Der stationäre Einzelhandel in den Sortimenten Bekleidung, Schuhe, Textilien und Lederwaren hat allein 2020 nach Angaben des Handelsverbands Deutschland (HDE) 23 Prozent Umsatz eingebüßt. Gleichzeitig hat sich der Umsatz im Onlinehandel 2020 insgesamt um mehr als 20 Prozent erhöht. Die Veränderung des Käuferverhaltens und das damit verbundene überdurchschnittliche Wachstum des Onlinehandels ist jedoch schon seit mehr als 10 Jahren ein intensiv diskutierter Trend. Die Corona-Pandemie wirkt dabei als Katalysator für bereits begonnene Transformationsprozesse. Insofern gehen Expertinnen und Experten seit Längerem davon aus, dass sich der Einzelhandel in Innenstädten verringern, qualitativ verändern und räumlich konzentrieren wird. Angesichts dieser Situation besteht unter Fachleuten aus Forschung und kommunaler Praxis große Einigkeit darüber, dass die Chance für die Innenstädte der Zukunft in der Stärkung ihrer Unverwechselbarkeit und ihrer Multifunktionalität besteht. Der Uniformität vieler Stadtzentren sollten stärker ihre historischen und baukulturellen Besonderheiten, aber auch ihre regional spezifischen Angebote entgegengesetzt werden. „Erlebnis“ ist dabei ein Schlüsselwort. Dabei geht es nicht nur um einen erlebnisorientierten Konsum, sondern auch um das soziale und kulturelle Erlebnis. Die veränderte Nutzungsmischung in den Innenstädten durch mehr Wohnen, temporäre Angebote oder neue Bildungsstandorte und Kommunikationsräume stärkt den Wandel der Innenstädte von einem Wirtschaftsstandort hin zu einem sozialen Ort und ganzheitlichen Lebensraum, der die Vielfalt menschlicher Bedürfnisse abbildet.Zukunftsthemen
In diesem Transformationsprozess trifft eine Vielzahl der aktuellen gesellschaftlichen Fragen wie im Brennglas aufeinander. Dabei hat der Erfolg der Transformation der Innenstädte Auswirkungen, die weit über die Grenzen der Zentren hinaus in die gesamte Stadt und Region gehen. Einige dieser Zukunftsthemen seien im Folgenden kurz angerissen. Die Digitalisierung verändert unsere Städte enorm. Offenes WLAN, digitale Information und Orientierung, Sensorik im öffentlichen Raum, digitale Lernorte, hybride Einzelhandels- und Dienstleistungsangebote und vieles mehr sind Chancen für mehr Lebensqualität. Sie müssen aber von den Städten so eingesetzt und gesteuert werden, dass sie strategisch eine Stärkung des Gemeinwohls bewirken. Gleichzeitig gewinnen analoge Orte der Begegnung im digitalen Zeitalter an Bedeutung, die gerade Innenstädte bieten können.Damit verbunden ist die Stärkung von Teilhabe und sozialer Gerechtigkeit. Über viele Jahre wurden Armut und Obdachlosigkeit in den Stadtzentren verdrängt oder ignoriert. In einem „Lebensraum Innenstadt“ bedarf es jedoch künftig einer lösungsorientierten Auseinandersetzung mit den sozialen Konflikten. Dazu muss die integrative Kraft der Innenstädte, insbesondere ihrer öffentlichen Räume, als Begegnungsort für alle gesellschaftlichen Gruppen gestärkt werden. Eine gesellschaftliche Frage, an der sich heute die Gesellschaft spaltet, ist die Ausgestaltung einer zukunftsfähigen Mobilität. In Innenstädten wird dies besonders deutlich, denn es geht um eine gute Erreichbarkeit aus Stadt und Region mit allen Verkehrsarten, aber auch um eine kluge und klimafreundliche City-Logistik. Angesichts der Vielfalt von Mobilitätsangeboten können Innenstädte modellhaft zeigen, wie eine multimodale Zukunft aussehen kann, in der neben dem Fußverkehr Fahrrad, Bus oder Auto im Wechsel nach Bedarf genutzt werden. Deutlich wahrnehmbar werden in den Stadtzentren die Folgen des Klimawandels. Denn durch den hohen Versiegelungsgrad treten Hitzetage und Überflutungen bei Starkregen besonders häufig auf. Deshalb müssen Lösungen entwickelt werden, wie durch Bäume und kleinteilige Grünflächen, Dach- und Fassadenbegrünung oder auch das Öffnen von Gräben und Gewässern dieser Entwicklung entgegengewirkt werden kann, ohne dass die Spezifik und Nutzungsmischung von Innenstädten beschädigt wird.