Emotionen im gesellschaftlichen Zusammenleben
NACHGEFRAGT: Wir fragten fünf Menschen, welchen Raum sie Emotionen in ihrem beruflichen Leben einräumen, in welchem Verhältnis Vernunft und Gefühl zueinander stehen sollten und was sie von Gefühlen in gesellschaftlichen Debatten halten.
Mareike Oponczewski, Vorsitzende der Evangelischen Jugend in Hessen und Nassau e. V.
Emotionen sind für mich, meinen Alltag und meine Entscheidungen, die ich dabei treffen muss, besonders wichtig. Gerade wenn es darum geht, seinen Weg, die eigene Zukunft, für die kommenden Jahre zu definieren, habe ich gemerkt, wie gut es tun kann, hierbei den Emotionen Raum zu geben. Emotionen sind ein Ausdruck von Persönlichkeit. Ich bin der Meinung, dass sowohl im Privaten als auch im Beruflichen Emotionen wichtig sind, um die gegenüberstehende Person ein- und abschätzen zu können. Dabei geht es nicht nur darum, ob der*die Gegenüberstehende einen mag. Es geht auch darum, herauszufinden, ob diese Person Hilfe benötigt, weil er*sie überfordert ist, sich besonders für ein Thema interessiert und deswegen seinen*ihren ganzen Ehrgeiz aufbringt oder eine Pause braucht, weil die Situation, in der sich derjenige*diejenige befindet, überfordernd wirkt. Emotionen brauchen nicht nur Raum, sondern verleihen ihn auch in gewisser Weise – auch geben sie anderen die Möglichkeit, diesen Raum zu erkennen und daran teilhaben zu können.Das Verhältnis zwischen Vernunft und Gefühl besitzt eine unglaubliche Entscheidungskraft. Je nachdem, wohin es einen mehr zieht, kann die dadurch getragene Entscheidung ganz anders ausfallen. Für meine berufliche Weiterbildung habe ich mich persönlich zwischen Vernunft und meinem Bauchgefühl entscheiden müssen und dabei viele Nächte gegrübelt, was nun der richtige Weg ist. Ich habe während meines Studiums meine Interessen so weit gefächert, dass ich für vieles Herzenswünsche entwickelt habe. Dabei war und ist es aber auch immer vernünftig gewesen, den Zukunftsblick, und das, was man sich für einen selbst und die Familie wünscht, nicht zu vergessen. Ich habe mich in diesem Moment für meine Vernunft entschieden. Der Herzenswunsch ist aber nicht vergessen. Ich baue darauf, dass ich in der Zukunft die Möglichkeit bekomme, meine Herzenswünsche mit meinem Beruf zu verbinden.
Viele Bilder von emotionalen Personen sind in der heutigen Gesellschaft stigmatisiert. So wird immer noch das Gefühl vermittelt, dass vor allem Emotionen die Verletzlichkeit widerspiegeln, einen schwach wirken lassen. Offen über Gefühle zu sprechen scheint immer noch ein Tabuthema zu sein. Dabei sind Gefühle eine unglaubliche Bereicherung. Sie erzeugen Kraft oder verstärken auch die Interessen der Menschen füreinander. Es sollte viel mehr Mut gemacht werden, Emotionen offen zu zeigen und dafür nicht verurteilt zu werden. Ich glaube, dass sich die Gesellschaft hier gerade in einem Wandel befindet und vor allem Jüngere gerade hierfür auf verschiedensten Wegen sensibilisiert werden können.
Tobias Lochen, CEO und Gründer des sigo E-Lastenrad Sharings, Darmstadt
Emotionen können Antrieb, aber auch Hindernis im unternehmerischen Leben sein. Ein Unternehmen zu gründen, basiert weniger auf rationalen Entscheidungen, sondern auf dem emotionalen Bedürfnis, sich z. B. selbst zu verwirklichen oder einen positiven Einfluss auf seine Umwelt auszuüben.Je nachdem wie stark der eigene Antrieb ausgeprägt ist, ist man in der Lage, mit Widerständen umzugehen, denn als Gründer ist man ständig mit Herausforderungen konfrontiert; man geht zwei Schritte vor und einen zurück.
Das produziert Emotionen und mit diesen richtig umzugehen, ist eine wesentliche Aufgabe eines jeden Unternehmers. Es bringt nichts, sich aufzuregen oder jemanden persönlich zu kritisieren. Dieses Verhalten führt nicht dazu, dass Herausforderungen besser gelöst werden. Ich versuche, diese negativen Emotionen zu kanalisieren und in ein „Jetzt-erst-recht“ oder „Ich-lasse-mich-nicht-unterkriegen“ zu transformieren. So wird aus negativen Emotionen ein positiver Antrieb, der mir Kraft gibt.
Gefühle machen uns zu Menschen. Daher kann man sie nicht ignorieren. Ich erlebe diesen Widerspruch zwischen Vernunft und Gefühl oft in Zusammenhang mit Personalentscheidungen. Ich kann z. B. mit niemandem zusammenarbeiten, mit dem ich nicht gern zusammen bin. Insbesondere beim Recruiting von Führungskräften ist es mir sehr wichtig, dass ich mich mit dem Kandidaten gut verstehe. Die Chemie muss stimmen. Auch, wenn das Team mit dem Kandidaten nicht zurechtkommt, wird es nicht funktionieren. Selbst wenn der/die Kandidatin eine fachlich vernünftige Entscheidung wäre.
Meiner Meinung nach lassen wir den Emotionen zu wenig Raum in unserer Gesellschaft. Emotionen sind natürlich und es erfordert viel Selbstbeherrschung, sich davon nicht beeinflussen zu lassen und immer professionell zu agieren. Insbesondere als Gründer, da man sich nicht in einem etablierten Unternehmen befindet und vielleicht noch über wenig Managementerfahrung verfügt. Man wird ins eiskalte Wasser geschmissen und hat oft nicht die Zeit, das Erlebte zu reflektieren, da man mit einer extrem hohen Geschwindigkeit jeden Tag eine Vielzahl an Entscheidungen treffen muss. Ich verstehe deshalb bis heute nicht, warum wir nicht schon unseren Kindern beibringen, mit Meditation oder anderen Techniken mit Gefühlen umzugehen. Meiner Meinung nach wird viel zu viel Wert auf das Fachliche gelegt und zu wenig auf Themen wie Empathie.
Dr. Bernd Blisch, Bürgermeister der Stadt Flörsheim am Main
Wenn man nach „wichtigen“ Politikern fragt, so sind das in der Regel Personen, denen eine gehörige Portion Leidenschaft für ihr Amt zugeschrieben wird. Eine Debatte – ob im Ortsbeirat eines Stadtteils oder im Deutschen Bundestag – gilt dann als gut, wenn die Emotionen hoch kochten. Gleichzeitig schätzt die überwiegende Zahl der Deutschen unsere Bundeskanzlerin gerade ob ihres unaufgeregten, unideologischen Politik- und Führungsstils.Welchen Raum soll man also den Emotionen im „öffentlichen Leben“ geben? Für mich kann ich sagen, dass Emotion und Leidenschaft in der Politik dazugehören müssen. Wenn ich als Bürgermeister nicht für meine Stadt „brenne“, werden die Bürgerinnen und Bürger das schnell merken und sich mit Enttäuschung abwenden. Gleichwohl muss bei den einzelnen Entscheidungen, die zu fällen sind, die Emotion draußen bleiben. Wir handeln nach Gesetzen, Regeln, Satzungen. Hier darf Emotion keine Rolle spielen. Es kann nicht sein, dass jemand besser behandelt wird, weil man sich schon lange kennt, weil jemand weniger „Widerworte“ gibt, weil er der gleichen Partei angehört.
Die Bürgerinnen und Bürger von Flörsheim sollten für ihr jeweiliges Anliegen die volle Empathie der Verwaltungsspitze erwarten dürfen. Wenn jemand ein Thema vorträgt, hat er oder sie das Recht, dass ich mich als Bürgermeister voll mit seiner oder ihrer Sache identifiziere und „emotional einsteige“. Er oder sie muss aber auch akzeptieren, dass die Entscheidung auf dem Boden der Gesetze fällt und nicht davon abhängt, wie gut mir jemand sein Problem erklären konnte. Die ältere, gehbehinderte Dame, die gerne vor ihrem Haus parken würde, kann ich verstehen, auch wenn vor ihrem Haus ein Halteverbot ist. Denn nur mit Mühe und Aufwand kann sie noch in ihren Hof fahren. Wenn aber deshalb der Schulbus nicht mehr um die Kurve kommt, wird das Verständnis für die ältere Dame kleiner, denn ich muss auch an den Rest der Stadt denken – und die Kinder im Bus. Mir persönlich ist es wichtig, dass jeder, der zu mir kommt, den Anspruch haben kann, dass ich sein oder ihr Problem absolut ernst nehme.
Im Rahmen meines Studiums sagte mir mal einer meiner Lehrer: „Wenn Sie sagen „Effi Briest“ gefällt mir nicht, sagt das nichts über den Roman von Theodor Fontane aus, aber viel über Ihre Person.“ Das hat mich stark beeinflusst. Auch wenn es überheblich klingt: Es spielt keine Rolle, was ich persönlich bei diesem oder jenem Thema fühle.
In der gesellschaftlichen Debatte sollte die Öffentlichkeit erwarten können, dass mein Statement abgewogen und vernunftgeleitet ist. Was ich persönlich davon halte, sollte nicht interessieren. Das hat aber nichts damit zu tun, dass ich mit Leidenschaft und voller Emotion in die Debatte gehe.
Pfarrerin Astrid Hannappel, Ev. Stephanusgemeinde, und Pfarrer Andreas Schmalz-Hannappel, Ev. Kirchengemeinde St. Johannes, Kelkheim
Auf der einen Seite bestimmen Emotionen unser Leben, sie sollten jedoch im öffentlichen Leben so weit wie möglich außen vor bleiben und für die anderen nicht sichtbar sein.Eine primäre Aufgabe in unserem pfarramtlichen Dienst ist jedoch, gerade geschützte Räume für Emotionen anzubieten und zuzulassen. Dazu gehört die Begleitung von Trauerprozessen mit den intensiven Begegnungen in Trauergesprächen, die Aussegnung am Totenbett, der Trauergottesdienst und letztendlich die seelsorgerliche Trauerbegleitung nach der Beerdigung. Durch diese Begegnungen werden ausdrücklich Räume für Trauer, Klage, Angst und Wut ermöglicht. Zudem haben wir hinsichtlich der Emotionen die Seelsorge- und Vorbereitungsgespräche für die Kasualgottesdienste der Taufe und Trauung im Blick, in welchen vorrangig Gefühle wie Freude und Dankbarkeit im Vordergrund stehen. Auch in den Seelsorgegesprächen unter vier Augen haben Emotionen wie Scham und Schuld, Wut und Angst, Trauer und Zweifel einen hohen Stellenwert. Vor allem dürfen diese sein und ihren Ausdruck finden. Als Pfarrerin und Pfarrer übernehmen wir hier eine Hebammenrolle. Wir unterstützen, dass auch negativ konnotierte Emotionen wie Wut, Neid, Schuld, Scham sein dürfen, und helfen dabei, die Gefühle im geschützten Raum auszusprechen und ihnen Ausdruck zu geben.
Auch der sonntägliche Gottesdienst kann insbesondere durch die Worte und die Musik Raum für Emotionen schaffen.
Vernunft und Gefühl stehen meistens in einem engen Zusammenhang und beeinflussen sich gegenseitig. Unsere Gedanken bestimmen unsere Emotionen und unsere Gefühle unsere Gedankengänge. Hierbei nehmen wir in unserem beruflichen Alltag hinsichtlich der Seelsorge, der Verkündigung und des Unterrichts eine Wechselwirkung wahr. Eine reflektierte Balance zwischen dem eigenen Gefühl und der Vernunft führt zu einer professionellen zugewandten Arbeitsweise.
Emotionen nehmen uns manches Mal ganz unmittelbar in Beschlag. Wenn wir wütend oder verletzt sind, möchten wir am liebsten sofort reagieren. Eine Impulskontrolle ist in diesen Momenten so sinnvoll wie notwendig. Da tut es gut, die Vernunft zu befragen, die Gedanken zu ordnen, sich Zeit zu geben und „eine Nacht darüber zu schlafen“.
Eine Selbstreflexion der eigenen Gefühle mit dem Nachforschen über die Gründe der Gefühlsintensität ist für die pfarramtliche Praxis sehr hilfreich. So können wir uns nicht vorstellen, dass unser Leben und Handeln ausschließlich vernunftgesteuert gestaltet werden kann.
Neben allen rationalen Entscheidungen, die beispielsweise im Kirchenvorstand getroffen werden, spielen Emotionen eine bedeutende Rolle, auch wenn diese meist nicht benannt werden. Viele der mitbestimmenden Emotionen sind uns vielleicht gar nicht bewusst.
Wir erleben im letzten Jahr eine zunehmende Emotionalisierung der Debatten, wenn es um den Umgang mit Corona und den sich stets anzupassenden Regelungen und Einschränkungen geht. Wissenschaftliche und rationale Argumente werden immer weniger gehört. Eine gute Möglichkeit wäre, die verschiedenen Emotionen, die Corona in uns auslöst, auszusprechen und diese ohne Bewertung stehen zu lassen. Denn wenn wir die Angst, die Wut, die Sorge der anderen hören, wahrnehmen und ansehen, dann können wir vielleicht adäquat darauf reagieren. Die Gefühle spielen in dieser sensiblen und großen Komplexität eine bedeutende Rolle und können nicht ausgeklammert werden. Ein Dialog mit der Suche nach tragfähigen und nachhaltigen Lösungswegen ist ohne die Berücksichtigung der diversen Gefühle nicht möglich. Nur mit der Bewusstwerdung unserer Emotionen schaffen wir den notwendigen Raum für rationale Argumente.