Staatsverschuldung unter Niedrigzinsen – Kein Übermut beim fiskalpolitischen Seiltanz
HINTERGRUND: Nicht erst seit der Corona-Krise wird – mal wieder – um eine Neuausrichtung der deutschen Fiskalpolitik gerungen. Dabei geht es nur vordergründig um kurzfristige Krisenbewältigung, denn die Aussetzung der Schuldenbremse hat massive Hilfs- und Konjunkturmaßnahmen ermöglicht. Deren grundsätzliche Notwendigkeit stellt zudem niemand ernsthaft infrage – auch wenn das Risiko, sich dabei fiskalisch zu überheben, nicht ignoriert werden darf. Ebenso kann grenzenlose Rettungspolitik zur strukturkonservierenden Belastung werden: Wird jedes Unternehmen am Leben gehalten und jeder Arbeitsplatz gerettet, kann kaum Neues entstehen und leiden Anpassungsprozesse an strukturelle Veränderungen, die sich infolge der Krise womöglich noch verschärfen. Die entsprechende Grenzziehung ist schwierig, aber notwendig.
von: Fulko Lenz, Leiter Digitale Transformation, Stiftung Marktwirtschaft
So bestechend die arithmetische Logik einer solchen Fiskalstrategie ist, sie ähnelt im Grunde einem Schneeballsystem, das zu kollabieren droht, wenn die vorausgesetzten Bedingungen nicht dauerhaft erfüllt sind. Entsprechend groß ist das Risiko, denn zum einen lassen sich weder Zins- noch Wachstumsentwicklungen über Jahrzehnte seriös vorhersagen. Es wäre nicht das erste Mal, dass sich Ökonomen bei der perpetuierten Fortschreibung gegenwärtiger Trends gehörig die Finger verbrennen. Auch ein plötzlicher Vertrauensverlust der Gläubiger von Staatsanleihen in die Kreditwürdigkeit des Staates – mit entsprechenden Effekten auf dessen Zinskosten – kann nicht ausgeschlossen werden. Sobald die Zinsen wieder oberhalb der Wachstumsrate liegen, verkehrt sich der vermeintliche Vorteil permanenter Überwälzung ins Gegenteil: Die Geister, die der Staat in fiskalisch rosigen Zeiten rief, wird er dann nicht mehr los und er ist gezwungen, zu höheren Kosten zu refinanzieren. Dieses „Refinanzierungsrisiko“ ist beträchtlich, da fast die Hälfte der ausstehenden Bundesanleihen innerhalb der nächsten 5 Jahre fällig wird. Im ungünstigsten Fall verstärken steigende Zinslasten und schwächelndes Wachstum die Zweifel an der Kreditwürdigkeit des Staates und es ergibt sich ein Teufelskreis. Aus diesem durch konsequente Sparpolitik wieder auszubrechen, ist alles andere als einfach – in der europäischen Nachbarschaft kann man davon ein Lied singen. Zum anderen dürfte es in den kommenden Jahren auch unabhängig von Corona wesentlich schwieriger werden, die zweite Bedingung – ein hinreichend kleines Primärdefizit – zu erfüllen. Aufgrund des demografischen Wandels wird sich das Verhältnis von Leistungsempfängern und Beitragszahlern in den umlagefinanzierten Sozialversicherungen weiter zuungunsten Letzterer verschieben. Deshalb übersteigen die für die Zukunft in den Sozialversicherungen gemachten Zahlungsversprechen des Staates die mit heutigen Steuer- und Beitragssätzen projizierten Einnahmen deutlich. Die Gesamthöhe dieser sogenannten impliziten Schulden schätzt die Stiftung Marktwirtschaft regelmäßig ab – letztmalig auf knapp das Fünffache der expliziten Verschuldung. Angesichts dieses Ausmaßes sowie des begrenzten Spielraums bei anderen Stellschrauben im Umlagesystem und des kaum erkennbaren politischen Reformwillens sind weiter steigende Steuerzuschüsse zur Deckung der Finanzierungslücken kaum vermeidbar. Ein Haushaltsausgleich ohne Nettoneuverschuldung wird somit zunehmend schwieriger und aus impliziten Schulden werden explizite.
Weitere Verteilungskonflikte am Horizont
Vor diesem Hintergrund ist auch das immer beliebter werdende Argument, Schulden seien keine Belastung kommender Generationen, kaum mehr als ein schlecht getarntes Ablenkungsmanöver. Es stimmt: Vererbt werden nicht nur Schulden, sondern auch die spiegelbildlichen Vermögensansprüche in Form von Staatsanleihen. Vernachlässigt man allgemeine Wohlfahrtsverluste durch Besteuerung sowie die tatsächliche Gläubigerstruktur von Staatsanleihen – 2019 wurden nur knapp 40 Prozent der Bundeswertpapiere von inländischen Investoren gehalten –, würden wir höhere Steuern zur Schuldentilgung oder Zinsdeckung daher in Summe tatsächlich an uns selbst zahlen. Ein schwacher Trost, denn auch die jährliche Umlage der Sozialversicherungen zahlen wir durch Steuern und Abgaben an uns selbst, niemand jedoch würde behaupten, dass dadurch keine Belastungen entstünden. Dabei verlaufen die Trennlinien zwischen Leistungsempfängern und Beitragszahlern verteilungs- und versicherungspolitisch einigermaßen begründbar und erwerben Zahlende im Gegenzug Leistungsansprüche. Beim „Insichgeschäft“ Staatsverschuldung verliefen die Trennlinien zwischen Staatsanleihenbesitzern und Steuerzahlern hingegen so intransparent wie wahllos und bekämen Letztere keinerlei Gegenleistung. Die Perspektive, dass künftigen Generationen „nur“ dieser Verteilungskonflikt hinterlassen wird, mag vielleicht beruhigend klingen, ist in Wahrheit aber bedrohlich. Man sollte die wirtschaftlichen, politischen und gesellschaftlichen Folgen nicht unterschätzen, wenn nicht mehr generös die regelmäßigen steuerlichen Mehreinnahmen verteilt werden können, sondern Entscheidungen über staatliche Leistungskürzungen oder Steuererhöhungen getroffen werden müssen, weil immer größere Teile des Staatshaushalts wieder dem Schuldendienst zufließen.Vorsicht vor Legendenbildung
In der Diskussion darüber, wie viel Schulden wir uns leisten können, geht zudem die genauso entscheidende Frage unter, wofür das zusätzliche Geld denn ausgegeben werden soll. Es ist weder ausgemacht, dass staatliche Mehrausgaben zwingend den Weg zu mehr Wachstum und Wohlstand bereiten, noch liegt auf der Hand, welche Staatsausgaben dafür am besten wären. Vor allem aber ist das Narrativ, man habe sich unter dem Joch der Schuldenbremse kaputtsparen müssen und nur deshalb keine Investitionsimpulse für grünes und digitales Wachstum setzen können, eine Legende. Die Kombination aus konjunkturbedingt steigenden Steuereinnahmen und fallenden Zinskosten hat dem Staat eine beispiellose fiskalische Dividende beschert. Insoweit diese nicht ausreichend für Investitionen verwendet wurde, liegen die Gründe dafür vor allem in der mangelnden politischen Bereitschaft, in einer alternden Bevölkerung andere Ausgabenprioritäten zu setzen. Daran wird die bloße Lockerung der Budgetrestriktionen sicher nichts ändern. Welche fiskalpolitischen Schlüsse können aus diesen Überlegungen gezogen werden? Vor allem sollte man sich eingestehen, dass zwar niemand die genauen Grenzen des fiskalischen Verschuldungsspielraums kennt, dieser in Zukunft aber mit Sicherheit deutlich kleiner wird. Wer in diesem Kontext versucht, gegenwärtig existierende Spielräume auszureizen, begibt sich auf einen Drahtseilakt in dichtem Nebel, ohne die Fallhöhe zu kennen oder zu wissen, wie tragfähig das Seil beim übernächsten Schritt noch sein wird. Hinzu kommt, dass Politiker aufgrund der Versuchung, durch langfristig unsolide Fiskalpolitik kurzfristige politische Vorteile zu erzielen, denkbar ungeeignete Seiltänzer sind. Man sollte den fiskalischen Weg aus und nach der Krise nicht halsbrecherischer machen, als er ohnehin schon ist. Es bleibt daher zu hoffen, dass die deutschen Fiskalregeln nicht der Corona-Pandemie zum Opfer fallen.