Staatsverschuldung unter Niedrigzinsen – Kein Übermut beim fiskalpolitischen Seiltanz
HINTERGRUND: Nicht erst seit der Corona-Krise wird – mal wieder – um eine Neuausrichtung der deutschen Fiskalpolitik gerungen. Dabei geht es nur vordergründig um kurzfristige Krisenbewältigung, denn die Aussetzung der Schuldenbremse hat massive Hilfs- und Konjunkturmaßnahmen ermöglicht. Deren grundsätzliche Notwendigkeit stellt zudem niemand ernsthaft infrage – auch wenn das Risiko, sich dabei fiskalisch zu überheben, nicht ignoriert werden darf. Ebenso kann grenzenlose Rettungspolitik zur strukturkonservierenden Belastung werden: Wird jedes Unternehmen am Leben gehalten und jeder Arbeitsplatz gerettet, kann kaum Neues entstehen und leiden Anpassungsprozesse an strukturelle Veränderungen, die sich infolge der Krise womöglich noch verschärfen. Die entsprechende Grenzziehung ist schwierig, aber notwendig.
von: Fulko Lenz, Leiter Digitale Transformation, Stiftung Marktwirtschaft„Aufgrund des demografischen Wandels wird sich das Verhältnis von Leistungsempfängern und Beitragszahlern in den umlagefinanzierten Sozialversicherungen weiter zuungunsten Letzterer verschieben.“ Fulko Lenz Im Kern der Fiskaldebatte geht es jedoch um mehr: Die derzeitige Niedrigzinsphase dient als Argument für einen Paradigmenwechsel in Richtung dauerhaft größerer und krisenunabhängiger Verschuldungsspielräume. So seien die Risiken von Staatsverschuldung vernachlässigbar und stiegen demgegenüber Nachteile fiskalischer Enthaltsamkeit. Sogar die Hoffnung auf eine dauerhaft „kostenlose“ Überwälzung von Staatsschulden wird gehegt, bei der fällige Schulden und anfallende Zinskosten durch die Aufnahme neuer Schulden beglichen werden. Solange die Zinsen auf Staatsanleihen dauerhaft unterhalb der Rate des Wirtschaftswachstums liegen (erste Bedingung) und die über den Schuldendienst hinausgehende Neuverschuldung einen durch die Zins-Wachstums-Differenz bestimmten Wert nicht übersteigt (zweite Bedingung), wächst das Bruttoinlandsprodukt schneller als die Schulden. Daher sinkt die Schuldenquote von allein und der Staat „entwächst“ seinen Schulden, ohne sie je zurückzahlen zu müssen.
So bestechend die arithmetische Logik einer solchen Fiskalstrategie ist, sie ähnelt im Grunde einem Schneeballsystem, das zu kollabieren droht, wenn die vorausgesetzten Bedingungen nicht dauerhaft erfüllt sind. Entsprechend groß ist das Risiko, denn zum einen lassen sich weder Zins- noch Wachstumsentwicklungen über Jahrzehnte seriös vorhersagen. Es wäre nicht das erste Mal, dass sich Ökonomen bei der perpetuierten Fortschreibung gegenwärtiger Trends gehörig die Finger verbrennen. Auch ein plötzlicher Vertrauensverlust der Gläubiger von Staatsanleihen in die Kreditwürdigkeit des Staates – mit entsprechenden Effekten auf dessen Zinskosten – kann nicht ausgeschlossen werden. Sobald die Zinsen wieder oberhalb der Wachstumsrate liegen, verkehrt sich der vermeintliche Vorteil permanenter Überwälzung ins Gegenteil: Die Geister, die der Staat in fiskalisch rosigen Zeiten rief, wird er dann nicht mehr los und er ist gezwungen, zu höheren Kosten zu refinanzieren. Dieses „Refinanzierungsrisiko“ ist beträchtlich, da fast die Hälfte der ausstehenden Bundesanleihen innerhalb der nächsten 5 Jahre fällig wird. Im ungünstigsten Fall verstärken steigende Zinslasten und schwächelndes Wachstum die Zweifel an der Kreditwürdigkeit des Staates und es ergibt sich ein Teufelskreis. Aus diesem durch konsequente Sparpolitik wieder auszubrechen, ist alles andere als einfach – in der europäischen Nachbarschaft kann man davon ein Lied singen. Zum anderen dürfte es in den kommenden Jahren auch unabhängig von Corona wesentlich schwieriger werden, die zweite Bedingung – ein hinreichend kleines Primärdefizit – zu erfüllen. Aufgrund des demografischen Wandels wird sich das Verhältnis von Leistungsempfängern und Beitragszahlern in den umlagefinanzierten Sozialversicherungen weiter zuungunsten Letzterer verschieben. Deshalb übersteigen die für die Zukunft in den Sozialversicherungen gemachten Zahlungsversprechen des Staates die mit heutigen Steuer- und Beitragssätzen projizierten Einnahmen deutlich. Die Gesamthöhe dieser sogenannten impliziten Schulden schätzt die Stiftung Marktwirtschaft regelmäßig ab – letztmalig auf knapp das Fünffache der expliziten Verschuldung. Angesichts dieses Ausmaßes sowie des begrenzten Spielraums bei anderen Stellschrauben im Umlagesystem und des kaum erkennbaren politischen Reformwillens sind weiter steigende Steuerzuschüsse zur Deckung der Finanzierungslücken kaum vermeidbar. Ein Haushaltsausgleich ohne Nettoneuverschuldung wird somit zunehmend schwieriger und aus impliziten Schulden werden explizite.