Haltung(en) in Zeiten der Krise
ZENTRUM: Warum wir über Haltung auch in der Krise nachdenken sollten. Eine evangelische Perspektive.
von: Oberkirchenrat Pfarrer Christian Schwindt, Leiter des ZGV„Wir Menschen sind nie für uns allein. Wir haben nicht nur ständig Haltungen zu diesem oder jenem, sondern sind Haltung, weil wir grundsätzlich Beziehungswesen sind.“ Oberkirchenrat Pfarrer Christian Schwindt
Wir Menschen …
In einer Krise offenbart sich sowohl das Gute als auch das Schlechte im Menschen, heißt es. So ist es auch in der gegenwärtigen Weltkrise, die den unbeabsichtigt royalen Namen „Corona“ trägt. Die einen horten Klopapier bzw. Nahrungsmittel, verkaufen Schutzmasken zu abenteuerlich überzogenen Preisen, oder wollen noch schnell „Kasse machen“. Die anderen engagieren sich ehrenamtlich in der Nachbarschaftshilfe, als Krisenhelfer in der Obdachlosenhilfe, der Tafelarbeit oder schließen sich sogar mit Bewohner*innen im Altenheim ein, damit hilfsbedürftige Menschen nicht alleine sind und die pflegerische Versorgung gesichert ist.Tugendhafte Haltung(en)
„Wie Sie in Zeiten der Corona-Krise Haltung zeigen können“, titelte vor Kurzem eine Zeitschrift. Ohne Zweifel, gerade weil auch die gegenwärtige Pandemie nicht nur das Gute im Menschen offenbart, ist die Erinnerung an tugendhafte Haltung(en) nachvollziehbar. Und so darf, auf den Spuren des antiken Dichters Aischylos, an dieser Stelle durchaus nochmals an die vom Kirchenvater Ambrosius von Mailand im 4. Jahrhundert erstmals sogenannten „Kardinaltugenden“ erinnert werden: Gerechtigkeit (iustitia), Mäßigung (temperantia), Tapferkeit bzw. Hochsinn (fortitudo, magnitudo animi bzw. virtus) und Weisheit bzw. Klugheit (sapientia bzw. prudentia). In Zeiten der Krise sind diese tugendhaften Haltungen nicht nur gefordert, sondern auch geboten. Doch bei den Fragen der Haltung geht es, genau betrachtet, um sehr viel mehr. Es geht nicht nur um die Bestimmung einzelner Haltungen. Es geht nicht nur um bestimmte Geisteshaltungen, ethische Einstellungen oder besonders hehre Gefühle. Mit dem Begriff Haltung kann etwas sehr viel Grundsätzlicheres beschrieben werden, an das sich zu erinnern, gerade in Krisenzeiten, heilsam lohnt.Was ist Haltung?
Sicher, was der aus dem Altmittelhochdeutschen stammende Begriff Haltung ist und wie sie begrifflich zu fassen ist, ist gar nicht so leicht zu sagen. Vieles vereint der Begriff jedenfalls. Körperhaltung als auch mentale Einstellungen gehören ebenso zu seinem Bedeutungsradius wie auch emotionale Dispositionen oder Fragen der Gewohnheit, des bestimmten kulturellen Gepräges oder eines persönlichen Lebensstils.Ist auch die Frage nach Haltung weder leicht zu beantworten, noch überhaupt leicht zu erörtern, hat der Begriff dennoch durchaus das Potenzial, unseren spezifisch menschlichen Welt- und Selbstzugang offenzulegen. Denn der bis zur Tugendlehre des Aristoteles zurückreichende Haltungsbegriff, dort hexis und später lateinisch habitus genannt – kann als grundsätzlich relationaler Begriff entfaltet werden und ist in diesem Sinne auf unser Verständnis von Mensch- bzw. Personsein bezogen. „Haltung“, so könnte man mit der Philosophin Frauke Annegret Kurbacher sagen, „bezeichnet grundlegende menschliche Bezüglichkeit, die immer eine Wechselwirkung aus den Bezügen zu Anderen, Selbst und Welt ist. Jede Haltung referiert implizit oder explizit auf dieses Geflecht aus Anderen, Selbst und Welt und ist zugleich Realisierung dieses komplexen Bezugs.“ (s. Kurbacher, Was ist Haltung?, 2008). Salopp gesagt kann man sagen: Wir Menschen sind nie für uns allein. Wir haben nicht nur ständig Haltungen zu diesem oder jenem, sondern sind Haltung, weil wir grundsätzlich Beziehungswesen sind. Wir sind sozusagen „Zwischen-Wesen“, die sich ständig „verhalten“ und grundsätzlich immer in „Verhältnissen“ leben. Selbst dann, wenn wir uns auf der Handlungsebene auch einmal nicht verhalten.