Gemeinwohl – Leitbegriff christlicher Sozialethik
SOZIALETHISCHE BETRACHTUNG: Martin Luther hat in einer prägnanten Formulierung festgehalten, was die Grundlage jeglicher theologischen Besinnung ist: Erfahrung. "Sola experientia facit theologum". Allein Erfahrung macht den Theologen (und die Theologin).
von: Pfarrer Dr. Ralf Stroh, Referat Wirtschaft & Finanzpolitik, ZGV„Gemeinwohl wie individuelles Wohl sind beide unverzichtbare Leitbegriffe der Sozialethik, weil beide wesentliche Aspekte des menschlichen Lebens zur Sprache bringen.”
Dr. Ralf Stroh Die Theologie ist in allen ihren Bereichen eine Erfahrungswissenschaft. Das gilt nicht zuletzt für die christliche Sozialethik. Sie beschreibt den Menschen nicht, wie er sein soll, sondern sie versucht zu erfassen, wie es um den Menschen tatsächlich bestellt ist. Nur dadurch kann sie überhaupt ihre orientierende Funktion erbringen. Nur wer sich auf die unverkürzte Wirklichkeit einlässt, hat eine Chance, sich in der Wirklichkeit zurechtzufinden, und darf hoffen, mit Aussicht auf Erfolg Gesellschaft verantwortlich mitzugestalten.
Sozialethik als Wissenschaft vom Menschen: Anthropologie und Psychologie
Weil die christliche Sozialethik ihrem Wesen nach die erfahrungsgesättigte Erfassung des Menschen in all seinen Höhen wie seinen Abgründen ist, ist die Grunddisziplin der Sozialethik wie überhaupt jeder theologischen Teildiziplin die Anthropologie. Die Anthropologie ihrerseits wird ihrem Gegenstand - dem Menschen - nur dadurch gerecht, wenn sie ihn nicht lediglich äußerlich beschreibt, sondern in seiner Eigenschaft ernst nimmt, ein erfahrendes Wesen zu sein. Die größte Herausforderung des Menschen besteht darin, sich auf die eigene Erfahrung einlassen zu müssen, ohne vor ihr die Flucht ergreifen zu können. Aus diesem Grund ist das Fundament einer jeglichen Erfahrungswissenschaft vom Menschen die menschliche Erfahrung selbst. Und somit ist die zentrale Disziplin der Anthropologie die Psychologie. Diese fundamentale Bedeutung der Psychologie für die Systematik der Erfahrungswissenschaften wie aller Wissenschaften überhaupt gehörte lange Zeit zum Grundbestand akademischer Bildung. Noch Adam Smith entwarf seine epochemachende Beschreibung des Wohlstands der Nationen (1776) auf der Grundlage seines philosophischen Hauptwerkes, der Theorie der ethischen Gefühle (1759). Auch für den Begründer der modernen evangelischen Theologie, Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher, bildet die Psychologie das Fundament aller Wissenschaften. Und zugleich liefert die Einsicht in die Psyche des Menschen für Schleiermacher die Grundlage, um zu einem realitätsgerechten Entwurf des menschlichen Zusammenlebens zu gelangen, der Orientierung bietet sowohl im allgemeinen Diskurs über die Gestaltung des gesellschaftlichen Miteinanders - in seiner Philosophischen Ethik - wie auch für die Verständigung innerhalb des christlichen Lebenszusammenhanges - in seiner Christlichen Sittenlehre.Der sozialethische Horizont seelsorglichen Handelns
Sowohl für Smith wie für Schleiermacher war klar, dass eine Gestaltung des gesellschaftlichen Miteinanders nur dann dem Menschen gerecht werden kann, wenn diese Gestaltung ihren Maßstab an der menschlichen Psyche, der menschlichen Seele hat. Das ist auch der Grund dafür, dass aus theologischer Perspektive Sozialethik nur ein anderer Ausdruck für Seelsorge ist - wenn man den weiten Seelsorgebegriff der cura animarum generalis zugrunde legt und bei Seelsorge nicht lediglich an die cura animarum specialis, also die Seelsorge in einzelnen Fällen, denkt. Dabei wäre es ein Missverständnis, wenn man bei Seelsorge nur an die Sorge um die Innerlichkeit des Menschen denken würde. Psychologie und Seelsorge erfassen den Menschen nur dann konkret, wenn sie ihn in seiner unhintergehbaren Leiblichkeit erfassen. Die Seele oder der menschliche Geist leben nicht in einem ihnen äußerlichen Körper wie in einem Gefängnis. Unsere Seele ist die Seele eines Leibes, der dieser Seele nicht äußerlich ist. Unser Körper ist das Medium unseres Geistes. Wir begeistern uns an unserer Sinnlichkeit mindestens ebenso sehr wie wir sie erleiden. Unsere Leiblichkeit zeigt uns nicht unsere Grenzen auf, sondern sie zeigt uns, wer wir sind. Und sie ist gerade damit zugleich die kritische Instanz, die es uns ermöglicht, Zuschreibungen anderer, wer wir zu sein oder nicht zu sein hätten, in die Schranken zu weisen - aber eben auch die Illusionen, die wir über uns selbst haben und unter denen wir oft stärker leiden als unter fremden Erwartungen. Ebenso wäre es ein Missverständnis, bei Seelsorge nur an die Sorge um einzelne Personen zu denken. So wie der Leib wesentlich zur Seele gehört, gehört das Mitsein mit anderen wesentlich zum Erleben unserer selbst, zu unserem Seelenleben, hinzu. Auch hier kommt das Mitsein nicht nachträglich zu unserer Existenz hinzu. Es ist immer schon da. Wir finden uns immer schon in Gemeinschaft vor. Unsere Individualität gibt es nur als Sein in Gemeinschaft. Indem wir unsere Individualität ausleben, gestalten wir immer auch zugleich unser Zusammenleben. Selbst das zeitweilige sich Zurückziehen aus der Gesellschaft mit anderen kann gar nicht anders, als geradedadurch das Zusammensein mit anderen zu gestalten. Der Eremit oder das Kloster sind immer soziale Phänomene, die auf das Zusammenleben ausstrahlen.