Zuhören – mehr als Kino im Kopf
HINTERGRUND: Über das Zuhören und seine Bedeutung für unsere gesellschaftliche Entwicklung
Sicherlich kennen Sie das: Auf einer Party sind Sie mit einem anderen Gast ins Gespräch gekommen. Sie erzählen von Ihrem vergangenen Urlaub. Wie gut das Essen, wie schön der Strand und wie toll Ihre Unterkunft war. Doch irgendetwas stimmt nicht in Ihrer Gesprächssituation. Hektik liegt in der Luft und Ihr Gegenüber wird zusehends nervöser. Ihnen wird klar, dass er oder sie nur auf eine Pause Ihrerseits wartet, bis er mit seiner eigenen Geschichte beginnen kann.
Das Zuhören, darüber sind sich die Theoretiker*innen einig, ist ins Abseits geraten. In unserer lauten, vom Visuellen geprägten Welt, die getrimmt ist auf Schnelligkeit und Effizienz, hat es das Zuhören nicht leicht, denn es ist unauffällig und unaufgeregt. Die Erinnerung daran schwindet, dass Zuhören Bestandteil unseres Lebens ist.
Über das Zuhören nehmen wir die Welt wahr – ihre Klänge, Töne, Geräusche. Egal ob die Stimme eines geliebten Menschen, das Meeresrauschen oder andere Naturgeräusche, ein Musikstück – nichts hat das Potenzial, uns so zu erfreuen und zu beflügeln wie das Zuhören. Einfach dadurch, dass es unsere Fantasie anregt – Kino im Kopf. Es ist essenziell für unsere Entwicklung von Anfang an. Zuhören zu können ist wesentlich, damit wir uns die Welt erschließen, sie verstehen und dazu beitragen, diese mitzugestalten.
Zuhören ist eine Kulturtechnik
Neben dem Sprechen, Lesen, Schreiben und Rechnen ist Zuhören eine grundlegende Kulturtechnik. Ohne Zuhören ist Spracherwerb nicht denkbar. Einer der ersten Sinne, die der Embryo entwickelt, ist der Hörsinn. Etwa ab dem 6. Monat kann ein Ungeborenes Geräusche und Stimmen seiner Umwelt wahrnehmen und auf die Stimme der Mutter reagieren. Beim Sprechenlernen sind Kinder auf die Anregungen der Umwelt angewiesen. Denn Kinder eignen sich Sprache in Beziehung an: Sie hören hin, ahmen nach, reagieren, integrieren neue Wörter oder Satzkonstruktionen in ihr vorhandenes Repertoire.
Dabei ist aus wissenschaftlicher Perspektive noch kaum klar, was mit „Zuhören“ gemeint ist, welche Prozesse dabei ablaufen, welche persönlichen und äußeren Bedingungen den Erfolg von Zuhören beeinflussen und ob, wann und wie man Zuhören lernt. Neben physiologisch-neurologischen Abläufen kann Zuhören als der Ausdruck einer inneren Haltung verstanden werden, die zur bewussten Auswahl aus dem Reizangebot der Umwelt befähigt und zur Gestaltung des sozialen Zusammenlebens beiträgt.
Zuhören heißt, empfänglich zu sein
Zuhören heißt, sich zu öffnen und empfänglich zu sein für das, was man über seine Ohren wahrnimmt. Es bedeutet, sich einzulassen auf sein Gegenüber. Wie anders die oben geschilderte Partysituation hätte verlaufen können, wenn Ihr Gegenüber Sie in Ruhe ausreden hätte lassen. Wenn er oder sie das Gehörte mit eigenen Erfahrungen in Verbindung gebracht oder nachgefragt hätte. Sie hätten sich wertgeschätzt gefühlt.
Dabei helfen die Erfahrungen des Gehörtwerdens, weil mir ein anderer achtsam und anerkennend zuhört. Die Fähigkeit, beim Hören auszuwählen, hilft auch dabei, gesellschaftliche Anforderungen zu bewältigen und mit anderen zu gestalten. Ob in der Schule, im Beruf, in der Wirtschaft oder in der Politik – ein am Verstehen orientiertes Zuhören trägt zum Gelingen von Kommunikation bei. Zuzuhören und zuhören zu können ist also nicht nur eine Sehnsucht des Individuums, sondern auch eine ganz grundlegende Notwendigkeit für uns als Gemeinschaft.
Nicht zuletzt sind das Hören und Zuhören Voraussetzungen des Lernens. Im deutschen Bildungssystem spielt Zuhörbildung immer noch eine untergeordnete Rolle. Dabei ist die Art und Weise, wie einander zugehört wird, die Grundlage eines lernfördernden sozialen Klimas. Wenn man bedenkt, wie wichtig das Zuhören für den Wissenserwerb und Lernerfolg ist – und geschätzte 75 Prozent ihrer Zeit verbringen Kinder in der Schule mit Zuhören – sehen wir eine große Notwendigkeit, auf diese unterschätzte Fähigkeit aufmerksam zu machen, vor allem weil sie bis heute bei Kindern eher als eine Bringschuld vorausgesetzt und weniger als pädagogische Aufgabe begriffen wird.
Zuhören lässt sich nicht befehlen
Zuhören lässt sich weder planen noch befehlen. Man kann jemanden anweisen zu reden. Man kann auch den Befehl zum Zuhören aussprechen. Allerdings haben wir keine Kontrolle darüber, ob, inwieweit oder gar mit welchem Erfolg dem auch Folge geleistet wird. Zum Akt des Zuhörens gehört daher – anders als beim Reden – die Freiheit. Er setzt Autonomie voraus – so der Medienwissenschaftler Bernhard Pörksen. Alleine das Zuhören wird unsere Gesellschaft nicht frei von Konflikten oder gar heil machen. Aber Zuhören als einen Akt zu begreifen, der uns miteinander in Kontakt treten und in den Austausch gehen lässt, um darum zu ringen, die bestmögliche Lösung für die Beteiligten zu finden – darin liegt die große Chance des Zuhörens. Zuhören in diesem Sinne trägt bei, unsere Gesellschaft dialogfähig zu machen und zu halten.
Zuhören ist umfassend
Seltenes Ereignis, stärkende Ressource, große Sehnsucht oder vielbeschworener Trend: Zuhören ist viel und umfassend. Bereichernd ist es allemal. Als Stiftung Zuhören sehen wir in unserer Arbeit tagtäglich, dass sich insbesondere Kinder und Jugendliche fürs Zuhören begeistern lassen. In allen Projekten der Stiftung, wie beispielsweise den Hörclubs oder Lilo Lausch, versuchen wir ihre Bereitschaft und Fähigkeit zu unterstützen, sich auf alltägliche Anforderungen, Chancen, aber auch Einschränkungen, vor die wir Tag täglich gestellt bzw. mit denen wir konfrontiert sind, einzulassen und sie zu durchdenken. Zudem fördern die Projekte der Stiftung Zuhören immer auch die Medienkompetenz. Denn wer gelernt hat, bewusst zuzuhören, gewinnt in einer Welt gesellschaftlicher Umbrüche mit einer Vielzahl an Möglichkeiten, sein Leben zu gestalten, die Kompetenz, für sich Werte und Haltungen zu entwickeln – eine ganz wesentliche Voraussetzung, Medien verantwortungsvoll und selbstbestimmt zu nutzen. neu.stiftung-zuhoeren.de