Eine zukunftsfähige Soziale Marktwirtschaft muss heute eine Ökosoziale Marktwirtschaft sein
STANDPUNKT: Der wirtschaftliche Aufschwung Deutschlands nach dem 2. Weltkrieg und die damit verbundenen Möglichkeiten des sozialen Aufstiegs und der sozialen Teilhabe in der deutschen Gesellschaft sind in den Köpfen vieler Bürgerinnen und Bürger untrennbar mit der Sozialen Marktwirtschaft verknüpft. Doch in den letzten Jahren verblasst der einstige Glanz der Sozialen Marktwirtschaft.
Dr. Julia Dinkel (u.)
Sozialer Aspekt
Sozialpolitisch muss der Fokus darauf liegen, die sozialen Sicherungssysteme in Deutschland an die veränderten Rahmenbedingungen anzupassen. Die wachsende Zahl unterbrochener Erwerbsbiografien, die durch Phasen einer zeitweisen Selbstständigkeit, Weiterbildung, längere Erziehungs- oder Pflegezeiten, aber auch durch Arbeitslosigkeit entstehen können, sind als normale Lebensphasen der meisten Menschen einzubeziehen und nicht primär als anspruchsmindernde Fehlentwicklungen zu betrachten. Bisher bieten die sozialen Sicherungssysteme in Deutschland weder für Menschen mit Erziehungs- oder Pflegeverantwortung, insbesondere für Alleinerziehende, noch für solche, die aus unterschiedlichsten Gründen (zeitweise) nicht der wirklichkeitsfremden Annahme von ununterbrochener Vollerwerbstätigkeit über mindestens 45 Jahre entsprechen können, keine zeitgemäße Antwort. Selbstverständlich kosten mehr Transferzahlungen und staatliche Leistungen Geld. Aber Studien belegen, dass eine Mehrheit der Deutschen dafür ist, diese Leistungen ebenso wie Leistungen für Gesundheit und Pflege dennoch bedarfsgerecht zu gestalten.Ökologischer Aspekt
Untrennbar von den klassischen Fragen sozialer Gerechtigkeit ist heute die Notwendigkeit, die sozialen Folgen ökologischer Veränderungen für die zukunftsfähige Gestaltung von der Gesellschaft einzubeziehen.Schon jetzt gehen Maßnahmen zum Umweltschutz überproportional zu Lasten von einkommensschwachen Personen. So fallen höhere Energiekosten für den Verbrauch von Strom und Gas bei niedrigeren Einkommen stärker ins Gewicht als bei mittleren oder höheren Einkommen. Die größten Verbraucher von Energie und Verursacher von CO2 werden hingegen von höheren Abgaben und Steuern befreit. Die Marktwirtschaft der Zukunft muss hier stärker an dem Verursacherprinzip ansetzen, indem z. B. Emissionen sowie Energie- und Ressourcenverbrauch belastet, menschliche Arbeit steuerlich entlastet wird. Gleichzeitig müssen öffentliche Angebote für klimagerechte Mobilität, Kommunikation entwickelt werden. Mehr noch: Soziale Sicherungssysteme und das gesellschaftliche Zusammenleben müssen mittel- und längerfristig wachstumsunabhängig gestaltet werden, wollen wir die ökologischen Herausforderungen ernst nehmen, die sich mit dem Klimawandel, dem Verlust und der weiteren Gefährdung von Biodiversität und anderer planetarischer Grenzen stellen.
Finanzierungsmöglichkeiten
Die Möglichkeit der öffentlichen Hand, öffentliche Leistungen für Bildung und Forschung, Gesundheit, den Umwelt- und Klimaschutz, Sicherheit und Rechtswesen, Schutz von Gemeingütern, Kultur und nicht zuletzt eine funktionsfähige, bürgerorientierte öffentliche Verwaltung sowie öffentliche Güter wie Infrastruktureinrichtungen in ausreichender Menge und Qualität zu finanzieren, wird bestimmt durch die Höhe und Verlässlichkeit ihrer Einnahmen. Dass Steuerpflichtige dazu nach Maßgabe ihrer finanziellen Leistungsfähigkeit beitragen sollen und damit eine gewisse Umverteilung verbunden und akzeptiert ist, gehört zu den Prinzipien einer Sozialen Marktwirtschaft. Zu den Steuerprinzipien gehörte es auch, dass grundsätzlich alle Einkunftsarten gleichmäßig herangezogen werden sollten. Mit der Privilegierung insbesondere von höheren Einkünften aus Kapitalerträgen durch die Einführung der Abgeltungssteuer wurde von diesem Prinzip ebenso abgewichen wie durch die steuerliche Besserstellung von vererbtem Betriebsvermögen und den Kapitalerträgen ausländischer Anleger und Investoren. Da gerade Menschen mit niedrigen Einkommen, die deshalb keine oder nur geringe Einkommensteuer zahlen, ihr Einkommen weitgehend für Güter des täglichen Verbrauchs einsetzen müssen, würden sie überproportional von einer Senkung der Mehrwertsteuer profitieren. Ebenso würden kleine und mittlere Erwerbseinkommen weitaus stärker von der steuerlichen Anrechnung der Sozialversicherungsbeiträge entlastet als die von fast allen Parteien propagierte Abschaffung des Solidaritätszuschlags, die primär höheren Einkommen zugute käme. Sollten sich die Parteien auf die Abschaffung des Soli verständigen (zu Redaktionsschluss war dazu noch keine Entscheidung bekannt), muss diese so gestaltet werden, dass die Progressivität der Besteuerung für hohe Einkommen mindestens erhalten bleibt, eher aber verstärkt wird.Obwohl eine verfassungskonforme Vermögenssteuer ein geeigneter Beitrag sein könnte, um einer weiteren Konzentration von Vermögen und damit weiterer Ungleichheit in der Vermögensverteilung entgegenzuwirken, fehlt dazu bei fast allen Parteien der politische Wille, dies auch durchzusetzen. Dies gilt ebenso für eine gerechtere Besteuerung großer Erbschaften und die Abschaffung der steuerlichen Privilegierung bei der Vererbung von Betriebsvermögen, die nur unzureichend zwischen kleineren Betrieben und sehr großen Familienunternehmen unterscheidet. Um der Wettbewerbsverzerrung und steuerlichen Benachteiligung von kleinen und mittleren Unternehmen (KMU) gegenüber transnationalen Unternehmen entgegenzuwirken, ist vor allem die Einführung einer Gemeinsamen Konsolidierten Konzernsteuer (GKKS) zu nennen. Während diese eine internationale Abstimmung ebenso voraussetzt wie die Einführung eines öffentlichen Registers der letztlich steuerlich Begünstigten und der schon lange geforderten Finanztransaktionssteuer, sind Regelungen, die zu einer steuerlichen Benachteiligung in Deutschland ansässiger Unternehmen gegenüber steuerlichen Ausländern führen, teilweise auch allein auf nationaler Ebene zu beseitigen. Insgesamt sind wir durch die tiefgreifenden technischen und ökologischen Veränderungen und deren soziale Folgen herausgefordert, über strukturelle, institutionelle und systemische Veränderungen nachzudenken, die deutlich über die Veränderung von Beitragssätzen oder eher mäßige Veränderungen von Steuersätzen hinausgehen, wenn wir unsere Gesellschaft zukunftsfähig gestalten wollen.