Es geht nur gemeinsam mit den Bürgerinnen und Bürgern: Was eine Kommune trotz knapper finanzieller Ressourcen tun kann, um einen sozialen Ausgleich sicherzustellen
BEISPIEL: Die mittelhessische Universitätsstadt Gießen leidet seit vielen Jahrzehnten unter einer „chronischen Krankheit“. Ihre eigene Steuerkraft ist angesichts der vorwiegend großen sozialen Herausforderungen aufgrund ihrer sehr heterogenen Einwohnerstruktur zu gering, um sich aus eigener Kraft zu nähren. Außerdem hat Gießen wenige große Gewerbebetriebe und viele öffentliche Institutionen, – Hochschulen, Gerichte, Behörden –, sodass die Steuereinnahmen im Vergleich zu gleichgroßen Städten gering sind.
Gießen hat mit 37 Prozent die geringste Quote an Steuereinnahmen unter allen hessischen Sonderstatusstädten. Viele Menschen sind auf Hilfen und Unterstützung angewiesen. Das hat zur Folge: Gießen ist dauerhaft und verlässlich auf Finanzhilfen des Landes zum Ausgleich angewiesen. Und die Finanzhilfen sind immer wieder zurückgegangen. 2011 wurden die entsprechenden Hessen-Mittel für den Finanzausgleich zwischen den Kommunen um 344 Mio. Euro gekürzt! Als im Jahre 2012 das Land mittels des Schutzschirm-Gesetzes im Gegenzug auch auf Gießen zukam und Finanzspritzen unter starken Auflagen versprach, waren wir angesichts eines Defizits im Ergebnishaushalt von rund 26 Mio. Euro und bestehenden Investitionskrediten in Höhe von rund 222,9 Mio. Euro quasi gezwungen, diese Hilfen anzunehmen. Aber eigentlich wollten wir nicht durch einen von oben verordneten Sparkurs als Gegenleistung zu den kurzfristigen Finanzhilfen dazu gezwungen werden, lebenswichtige und für das soziale Miteinander notwendige Leistungen und Einrichtungen einzuschränken oder gar zu beenden. In einer repräsentativen Umfrage vor dem Beitritt zum Schutzschirm befragten wir die Einwohner Gießens, was für sie unverzichtbar ist und wo sie ggf. Einschnitte hinnehmen würden. Es zeigte sich, dass es gerade bei Ausgaben für ein soziales Miteinander, in der Unterstützung Hilfsbedürftiger, aber auch in der Bildung, im Sport, bei der kulturellen Infrastruktur (z. B. Stadttheater) keine Einschnitte geben sollte. Die Gießenerinnen und Gießener wollen auf ihr soziales und städtisches Leben nicht verzichten. Das nahmen wir als Handlungsauftrag in die Verhandlungen um die Ausgestaltung des Konsolidierungsprogramms im Rahmen des Schutzschirms mit dem Land mit. Und das Ergebnis war: Keine Leistungen wurden eingeschränkt und Einrichtungen geschlossen. Im Gegenteil, wir haben sogar nochmals stark in die Infrastruktur und die Lebensqualität der Stadt investiert. Im Zuge der Landesgartenschau wurden Bereiche der Stadt am Fluss und in unserem „Bürgerpark Wieseckaue“ attraktiver gemacht – das zahlt sich bis heute aus. Die Menschen nutzen diese neuen Stadtgebiete für ihre Freizeit. Und Gießen gewinnt an Einwohnerinnen und Einwohnern und damit an Steuerkraft. Gießen hat trotz Schutzschirm an Attraktivität gewonnen und ist immer bestrebt, Lasten auf vielen Schultern gleichmäßig und gerecht zu verteilen. Dazu gehört leider auch, dass wir uns schweren Herzens dafür entscheiden mussten, die Grundsteuer stark zu erhöhen, und dadurch einen Solidaritätsbeitrag aller Gießenerinnen und Gießener für das Wohlergehen unserer Stadt und die berechtigten Wünsche an eine attraktive Heimat einforderten.
Meines Erachtens hat dies ein Großteil unserer Bürgerinnen und Bürger akzeptiert – vielleicht, weil wir sehr offensiv und transparent mit unseren Entscheidungszwängen umgegangen sind und sie stets auf diesem Weg beteiligt haben. Heute – nach fünf Jahren unter dem Schutzschirm – schauen wir auf vier ausgeglichene Haushaltsjahre zurück und hoffen, dass wir frühzeitig aus dem Vertrag aussteigen und wieder mehr Gestaltungsspielraum und damit kommunale Selbstbestimmung erreichen können ohne den goldenen Zügel des Landes.