Renaissance der Sozialen Marktwirtschaft
HINTERGRUND: Die Soziale Marktwirtschaft war eine Episode in der Geschichte der marktwirtschaftlichen Entwicklung. Sie herrschte nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges bis etwa Ende der 1970er Jahre. Und zwar überall in der entwickelten Welt, in den USA („New Deal“, „Great Society“) ebenso wie in Deutschland („Rheinischer Kapitalismus“).
Was war die Soziale Marktwirtschaft?
Diese Marktwirtschaft war geprägt von einer breiten Teilhabe an einem zugleich hohen Wachstum. Es ist die Zeit der „great compression“, der Verringerung vormaliger Einkommensdisparitäten und Vermögenskonzentrationen. Tiefe Einkommen wuchsen stärker als hohe Einkommen. Auch Beschäftigte mit mittleren Qualifikationen verdienten gut. Anstellungen waren stabil, boten Aufstiegschancen und gaben ein Gefühl der Sicherheit. Bewirkt wurde all dies durch ein komplexes Geflecht von Regulierungen einerseits, die Etablierung und den Ausbau sozialer Sicherungssysteme andererseits. Regulierungen zähmen stets die Entfaltung der Marktdynamik. Das Institut des Arbeitsrechts etwa wirkt mäßigend. Wer die Arbeitsleistungen eines anderen dauerhaft nutzen möchte, unterliegt gewissen Restriktionen, etwa bezüglich der Arbeitszeit, der Lohnfortzahlung im Krankheitsfall und des Kündigungsschutzes. Zugleich waren die globalen Märkte nicht einfach offen. Dies gab Unternehmern und Managern Spielräume, die sie vielfach verantwortungsvoll nutzten. Der vorherrschende Geist war der des Ausgleichs zwischen anerkannt konfligierenden Ansprüchen. Das Wirtschaften war, zumindest ansatzweise, in gesellschaftliche Werte der Fairness und Sinnhaftigkeit „eingebettet“ (Karl Polanyi, Wilhelm Röpke).Das Regime des Neoliberalismus
Mit der neoliberalen Revolution, die um das Jahr 1980 praktisch überall einsetzte, nahm all dies ein schleichendes Ende. Die Marktlogik soll nun in allen Lebenslagen regieren. Die vormals aufgebauten Marktregulierungen sollen abgebaut oder marktkonform ausgerichtet werden. Weil dasKapital ja nun einmal die Arbeitsplätze schaffe, sei es zu „hofieren“ (Hans-Werner Sinn). Entsprechend stieg nicht nur der Anteil der Kapitaleinkommen an der volkswirtschaftlichen Wertschöpfung, auch die Vermögen wuchsen gegenüber der Wirtschaftsleistung weit überproportional an und fielen vor allem dem obersten einen Prozent zu. Auch innerhalb der Gruppe der abhängig Beschäftigten nahm die Polarisierung der Einkommen zu. Der Anteil mittlerer Einkommen sinkt überall. Neue Beschäftigungen sind entweder sehr hoch oder sehr tief vergütet. Innerhalb der Unternehmen hat sich der Geist der Mäßigung und des Ausgleichs zugunsten eines Rentabilitätsextremismus verflüchtigt. Unternehmen sind mit jeder Faser ihres Tuns auf die Maximierung des Shareholder-Value auszurichten. Gegenüber gesellschaftlichen Ansprüchen verhalten sich Unternehmen, jedenfalls im Großen und Ganzen, konsequent opportunistisch. Im Ökonomiestudium wird dem Nachwuchs mit wissenschaftlicher Autorität vermittelt, dass alles andere irrational wäre. Moralität wird zu einer Präferenz neben anderen herabgestuft. Der Rentabilitätsextremismus, der sich über den Wettbewerb fortpflanzt, sorgt im Verein mit dem Abbau der sozialen Sicherungssysteme dafür, dass Beschäftigungen und Beschäftigungsaussichten prekär werden. Statusangst geht um. Da von den Unternehmen Mäßigung nicht zu erwarten ist und die sozialen Sicherungssysteme die Folgen der Marktdynamik in weitaus geringerem Umfang abfedern als zuvor, sehen sich die Beschäftigten auf sich selbst zurückgeworfen. Es gilt nun, das Leben im Ganzen „eigenverantwortlich“ als dauernde Investition ins eigene „Humankapital“ zu begreifen. Und zwar möglichst vorausschauend, um das Risiko eines möglichen Absturzes gering zu halten. Bildung wird daher in Humankapitalbildung transformiert. Zur politisch betriebenen Ökonomisierung der Lebensverhältnisse durch Privatisierung und Deregulierung gesellt sich die scheinbar selbst initiierte Ökonomisierung der eigenen Lebensführung. Wettbewerbsfähigkeit wird zum Leitstern aller Lebensbezüge. Wettbewerbsfähigkeit wird auch zum Leitstern aller Politik. Die „marktkonforme Demokratie“ gibt ihre politische Freiheit auf zugunsten eines bereits vorentschiedenen Ziels: der Wettbewerbsfähigkeit des zum „Standort“ degradierten Gemeinwesens. Einem Unternehmen gleich sucht der Wettbewerbsstaat sich attraktiv für das global zirkulierende, stets abwanderungsbereite Kapital zu machen und möglichst viel Kaufkraft von anderen Standorten abzuzweigen. Dies ist Deutschland in besonderem Maße gelungen. Da die Kaufkraft im eigenen Lande aufgrund der „Lohnmoderation“ und des ausgebauten Niedriglohnsektors nur unzureichend verfügbar ist, sucht man sie im Ausland, in welches Arbeitslosigkeit exportiert wird. Die dauernden Leistungsbilanzüberschüsse bedeuten, dass sich das Ausland gegenüber Deutschland verschulden muss, will es nicht schrumpfen. Zwar haben sich in Deutschland die Einkommensdisparitäten seit 2005 nicht weiter verschärft. Dies allerdings auf Kosten des Auslandes.