Perspektiefe 34, September 2014
Weniger, älter, bunter, innovativer: Im Kleinen liegt die Kraft zum Großen verborgen
IMPULS
von: Pfarrer i.R. Dr. Ulf Häbel, Freienseen
„Der Wille zum notwendigen Wandel und die Kraft zur Veränderung kommt aus der Vision, dass im Kleinen Großes verborgen liegt – so wie im Senfkorn.“
Ulf Häbel
Hinter der Scheune im Bauerngarten haben wir ein Gehege für Hühner angelegt. Eine kleine Schar, ein Hahn und vierzehn Hühner laufen dort frei herum, scharren, gackern, legen ihre Eier. Ein alter Mann aus dem Dorf stand dabei als ich die Tiere gefüttert habe. Dann bat er um einen Eimer Getreide. Wofür? „Ich habe auch wieder angefangen, Hühner zu halten“, erzählte er. „So weiß ich, was ich esse; ich habe meine Beschäftigung und bin zufrieden.“
In unserem Dorf gibt es seit zehn Jahren keine Einkaufsmöglichkeit mehr. Seitdem haben mehrere Leute angefangen sich selbst zu versorgen mit Gemüse- und Obstanbau, Hühnerhaltung oder Schafzucht.
So wie die Not das Beten lehrt, macht die Begrenzung der Ressourcen erfinderisch. Insofern liegt in dem sogenannten demographischen Wandel und der damit verbundenen „Schrumpfung“ der Gemeinden – besonders in den ländlichen Räumen auch eine Chance. Statistisch betrachtet stimmt es, dass die Dörfer und ihre Kirchengemeinden kleiner werden. Die Jungen ziehen ausbildungs- oder arbeitsbedingt weg. Die Alten bleiben zurück.
Wir werden in den Gemeinden weniger und älter, aber auch bunter und innovativer. In den sogenannten „Dauner Thesen“ ist das formuliert. Da treffen sich einmal im Jahr ein paar Leute in Daun in der Eifel. Sie denken darüber nach wie sich unter dem demographischen Wandel das Leben in den Dörfern verändert. Sie haben in diesen Thesen nicht nur die Klage über den Wandel ausgedrückt, sondern die Chancen in der Veränderung gesucht.
Offensichtlich entstehen da, wo äußerlich betrachtet die Ressourcen knapper werden, neue Ideen zur Betätigung und Lebensgestaltung. Da macht eine Kirchengemeinde einen Dorfladen auf. Ein riesiger Pfarrgarten wird zu einem Gemüsegarten, den ein paar junge Familien gemeinsam bewirtschaften. In unserem Dorf sind wir dabei, zwei seit Jahren leerstehende Gebäude zu einem Ort der Begegnung auszubauen. In der Dorfschmiede wie wir diesen Ort nennen (wir schmieden das Dorf wieder neu), sollen sich die Menschen begegnen: im Dorfladen beim Einkaufen, in der Tagespflege zum Erzählen und Essen, in der Dorfwerkstatt zur Arbeit und Betätigung. In der Werkstatt sollen die Kinder aus unserer Dorfschule von den rüstigen Rentnern, die Handwerker waren, im Werkunterricht lernen, was man zum Leben im Dorf können muss.
Viele im Dorf sind von der Idee begeistert und machen schon jetzt beim Ausbau der Dorfschmiede mit. Das Feuer der Begeisterung brennt von unten. Visionen entstehen und bringen Neues in die Welt. Not lehrt beten, Armut macht erfinderisch und die kleiner werdenden Gemeinden entdecken neue Energien. Oft liegt die Kraft zu etwas „Großem“ im Kleinen verborgen.
In dem biblischen Gleichnis vom Senfkorn ist diese Erfahrung beschrieben. Das Senfkorn ist unscheinbar klein. Doch die ganze Energie zum Wachstum liegt in ihm verborgen. Nicht die augenscheinliche Größe eines Getreidekorns oder einer sozialen Gemeinschaft bestimmt ihre Möglichkeiten, sondern die in ihr liegende Veränderungsenergie. Man kann noch so viele Fakten äußerlich sammeln und beschreiben. Die Statistiken erfassen inzwischen alles. Und wenn man alle Fakten zusammen hat, ist der letzte Rest von Veränderungsintelligenz verschwunden. Der Wille zum notwendigen Wandel und die Kraft zur Veränderung kommt aus der Vision, dass im Kleinen Großes verborgen liegt – so wie im Senfkorn.
Der Theologische Ausschuss hatte der Synode der EKHN 1995 acht „Leitbilder der Kirche“ zur Diskussion vorgelegt. Es waren Bilder aus der Bibel, die auf der einen Seite zur Verständigung beitragen sollten, was wir unter Kirche verstehen. Auf der anderen Seite wirkten sie wie Visionen, auf die hin sich die Kirche verändern und entwickeln könnte.Eines dieser Leitbilder war das Senfkorn.
Senfkorn (Hoffnung und Unverfügbarkeit)
Gott schenkt für das kommende Gottesreich sowohl die anfängliche Energie als auch die Grundzüge der späteren Entfaltung. Das Bild macht deutlich, dass im Glauben der Christinnen und Christen beides wie in einem Senfkorn vorgegeben ist. Der Same ist geradezu winzig im Vergleich zu dem, was daraus entsteht und wird dadurch zum Zeichen der Hoffnung.
Im Kleinen liegt die Kraft zum Großen. Das bedeutet, dass schon in kleinen Kernen und Gruppen die Gestalt der ganzen Kirche enthalten ist und in Teilbereichen die Energie zum Wachsen des Ganzen liegt. Wir vertrauen darauf, dass Gott zu unserem Wollen auch die Kraft gibt, es in die Wirklichkeit umzusetzen. (Mt 13,31)