Familie in der Gesellschaft: Neue Herausforderungen für alle
HINTERGRUND: Die „Befähigung zur Bewältigung des Alltagslebens“, also den Aufbau von verlässlichen Beziehungen, von Handlungsorientierung und Werthaltungen, die zur Lösung von komplexen gesellschaftlichen Aufgaben in einer arbeitsteiligen Wirtschaftsgesellschaft gebraucht werden, kann nur entstehen, wenn junge Erwachsene sich nicht nur für Kinder entscheiden sondern auch bereit sind, über viele Jahre viel Zeit, Zuneigung und auch Geld zu investieren, damit sich diese Kinder in jeder Hinsicht entwickeln können. „Ohne diese individuelle Bereitschaft entwickeln sich keine Werthaltungen, keine sozialen oder Fachkompetenzen und keine verlässlichen Bindungen“, heißt es im 5. Familienbericht der Bundesregierung.von Dr. Brigitte Bertelmann, Referat Wirtschaft und Finanzpolitik im Zentrum Gesellschaftliche Verantwortung
Neben der erheblichen gesellschaftlichen und ökonomischen Bedeutung von Familie muss sie immer auch als Ort für höchst intime und private Gefühle wahrgenommen werden. Diese bestimmen wesentlich die in Familien getroffenen Entscheidungen mit. Diese eigene Rationalität, die auf die spezifischen familialen Bedürfnisse ausgerichtet sind, in Einklang zu bringen mit den externen Faktoren, die das Leben der einzelnen Familienmitglieder mitbestimmen, ist die permanente und hochkomplexe Aufgabe, die Familien zu bewältigen haben.
Familie muss bewusst organisiert und gestaltet werden. Mit der Einführung von Begriffen wie „Qualitätszeit“ und „Zeitmanagement“ werden betriebswirtschaftliche Kategorien in die Bewertung von Familienleistungen und -organisation eingeführt, die ihnen nicht gerecht werden können. Die emotionalen und anderen Bedürfnisse, insbesondere von Kindern und Jugendlichen oder Pflegebedürftigen, lassen sich nicht wie ein unternehmerisches Projekt planen. Sie setzen erwerbstätige Eltern unter einen erheblichen Druck, der sich sehr belastend auf die ganze Familie auswirken kann. Insbesondere Frauen erleben es nicht selten als persönliches Versagen, wenn es ihnen nicht gelingt, ihre Vorstellungen von einer intakten Familie umzusetzen und allen Erwartungen gerecht zu werden, aber auch Väter empfinden angesichts der vielfältigen, teilweise kaum zu vereinbarenden Anforderungen durch berufliche und familiale Verantwortung erheblichen Druck. Sie müssen gleichzeitig mit neuen Leitbildern von Partnerschaft und Vaterrolle, steigenden Anforderungen an berufliche Flexibilität und Mobilität und zunehmender Unsicherheit am Arbeitsplatz zurecht kommen.
Familie ist systemrelevant
Mit der Anerkennung der volkswirtschaftlich und gesellschaftlich bedeutsamen Leistung von Familien und der Einführung bzw. Verstärkung familienunterstützender Einrichtungen und Leistungen hat sich auch der Blick auf Familie verändert.
Familienorientierung wird von Unternehmen und von Politik als Wettbewerbs- und Standortfaktor gesehen und Kinder werden nicht allein als Hindernis für die Einsatzfähigkeit ihrer Eltern am Arbeitsplatz sondern auch als potenzielle Steuer- und Beitragszahler, Arbeits- und Pflegekräfte gesehen. Damit werden Ausgaben für ihre Erziehung und Ausbildung zur sinnvollen Investition.
Männer und Frauen, die sich für Kinder entscheiden, gehen damit eine sehr langfristige Bindung ein. Obwohl Partnerschaften und Ehen grundsätzlich aufgelöst werden können, bleibt die Elternschaft und die daran gebundenen gesetzlichen Verpflichtungen sowie die emotionale Bindung mindestens bis zur Volljährigkeit eines Kindes, meist auch darüber hinaus, erhalten. Diese Bindung ist verbunden mit sehr langfristigen finanziellen und emotionalen Investitionen. Während emotionale Kosten und Nutzen subjektiv sind und damit kaum zu quantifizieren, sind die finanziellen Aufwendungen sehr wohl zu errechnen. Diese Investitionen von Eltern in ihre Kinder geschehen nicht in der Erwartung einer bestimmten finanziell messbaren Rendite. Eher schon in der Hoffnung, dass die emotionale Bindung erhalten bleibt und Eltern von ihren Kindern auch Zuwendung und persönliche Unterstützung erhalten. Auf jeden Fall fließt der ökonomische Nutzen von Kindern, die eine gute Erziehung und Ausbildung erhalten haben sowie einen Beruf ergreifen konnten, nicht direkt den Eltern zu. Vielmehr zahlen sie als Arbeitnehmer/innen Steuern und Beiträge und tragen als Beschäftigte zum Gewinn eines Unternehmens oder zur Erbringung öffentlicher Leistungen bei oder schaffen als Selbständige Arbeitsplätze für andere.
Wenn Unternehmen in Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer mit Familienverantwortung investieren steht die Bindung vorhandener Fachkräfte durch die Erleichterung der Vereinbarkeit von beruflichen Aufgaben und Familienverpflichtungen sowie die Minimierung von Fehlzeiten im Vordergrund. Auch politische Maßnahmen, wie z. B. der Ausbau von Ganztagsschulen und von Betreuungsangeboten für Kinder unter drei Jahren oder die Begrenzung des Elterngeldes auf höchstens 14 Monate, tragen vor allem diesem Bedürfnis von Unternehmen Rechnung.
Noch deutlicher wird der Zielkonflikt zwischen den Bedürfnissen von Familien und den Zielen von Unternehmen bei der Vereinbarkeit von Erwerbstätigkeit und Pflege. Während bei der Betreuung und Versorgung von Kindern durch berufstätige Eltern zumindest langfristig auch für die Unternehmen ein positiver Effekt entsteht, ist dies bei der Pflege von (alten) Angehörigen nicht direkt der Fall.
Die Leistung von Familien ist gesellschaftlich relevante Arbeit
Das Renten- und Sozialversicherungsrecht, das Unterhalts- und Arbeitsrecht haben dazu beigetragen, dass Erwerbsarbeit immer mehr zur alleinigen Basis einer ausreichenden finanziellen Grundlage für den Lebensunterhalt aber auch zu gesellschaftlicher Integration und Anerkennung wurde. Die in Familien erbrachten unentgeltlichen Leistungen werden strukturell unterbewertet. Menschen, die Familienverantwortung übernehmen, werden systematisch benachteiligt und tragen die finanziellen Belastungen und Risiken, die damit verbunden sind, zu erheblichem Teil selbst. Bis heute ist es allenfalls ansatzweise gelungen, langfristige, ganzheitliche Konzepte und eine angemessene Bewertung der Familienleistung in politische Maßnahmen umzusetzen, die Erziehungs-, Bildungs- und Sozialisationsleistung von Eltern angemessen in die Anspruchsbegründung für Alterseinkünfte einzubeziehen und alle Kinder unabhängig vom Bildungsstand und sozialen Status der Eltern zu fördern.
Für Familien stellt sich immer mehr die Frage, wie unter diesen Bedingungen Care-Arbeit in der gewünschten Form überhaupt geleistet werden kann? Wie können Geborgenheit, Liebe, Zuverlässigkeit erlebt und vermittelt werden, damit Kinder Sicherheit und Vertrauen entwickeln, wenn das Familienleben unter einem immer stärkeren von außen bestimmten Zeitregime und Erwerbsdruck gestaltet werden muss, wenn Eltern in prekären Arbeitsverhältnissen oder in Arbeitslosigkeit zunehmend selbst unter Ängsten und Unsicherheit leiden. Menschen in Familien erbringen unter permanentem Anpassungsdruck eine äußerst produktive Erziehungs-, Bildungs-, Pflege- und Sozialisationsleistung. Die dafür notwendigen strukturellen, institutionellen und kulturellen Voraussetzungen zu schaffen ist eine öffentliche Aufgabe (Gesine Schwan).