„Digitale Netzwerke eröffnen neue Chancen“
INTERVIEW: Interview mit Professor Dr. Roland Rosenstock von der Theologischen Fakultät der Ernst-Moritz-Arndt- Universität Greifswald zur Bedeutung der digitalen Welt für die Gesellschaft, den Einzelnen und die Kirche.
Die Fragen stellten Margit Befurt und Michael Grunewald, ZGV „Die Entwicklung der Medien im 21. Jahrhundert fordert die etablierten Kirchen noch stärker heraus, sich für Beteiligungsgerechtigkeit und informationelle Selbstbestimmung einzusetzen.“ Prof. Dr. Roland RosenstockWas bedeutet die Digitalisierung der Gesellschaft für den Einzelnen?
Rosenstock: Die meisten Tätigkeiten unseres Alltags sind mit der Benutzung des Computers oder des Smartphones verbunden. Das betrifft zum Beispiel die Veränderung unserer Gewohnheiten im Freizeitbereich und unser Kaufverhalten: Wer eine Reise bucht, schaut erst einmal ins Internet, um die schönsten Reiseziele und die billigsten Hotels herauszufinden. Wer sich mit anderen Menschen verabredet, wird nicht mehr jeden Kontakt einzeln anrufen, sondern sich über sein soziales Netzwerk mit allen Kontakten zugleich verständigen. Wer sich neue Möbel, technische Geräte oder höherwertige Kleidung kaufen möchte, wird auf Onlineportalen einen Preisvergleich einholen und tendenziell zumeist das billigste Angebot über das Internet bestellen. Ob beim Bau eines Hauses oder der Ansiedlung eines mittelständischen Unternehmens ist die Möglichkeit einer schnellen Internetanbindung zu einer der wichtigsten Vorausetzungen für den Standort geworden. Wenn die deutsche Autoindustrie unter Hochdruck in die Entwicklung von computergesteuerten Fahrzeugen investiert und wir in fünf Jahren ohne Lenkrad und Pedale von München nach Hamburg fahren werden, dann wird deutlich, dass die technischen und ökonomischen Entwicklungen das Zusammenleben in unserer Gesellschaft nachhaltig verändern. Es entstehen neue soziale Räume, und wir befinden uns mitten in einem grundlegenden Wandel der Kommunikations- und Geselligkeitskulturen, der Kauf- und Vertriebsgewohnheiten. Medienbildung gehört heute zu den wichtigsten Voraussetzungen, um an einer Hochschule studieren oder ein Handwerk erlernen zu können. Auch verändern sich unsere medialen Gewohnheiten: Das klassische Fernsehen verliert in Deutschland immer mehr an Bedeutung. Filme, Serien und Dokumentationen werden zunehmend im Internet geschaut, und die Bewegtbildangebote bei YouTube zeigen, wohin sich die digitalen Spartenkanäle weltweit entwickeln werden. In der Wissenschaft sprechen wir daher von der Mediatisierung der Alltagswelt, die ebenso unsere Arbeitsprozesse, aber auch das Aufwachsen von Kindern und Jugendlichen bereits nachhaltig verändert hat. Für jüngere Menschen ist das Internet ein erweiterter sozialer Raum, in dem sie sich selbstbewusst bewegen wie auch in anderen sozialen Räumen, zum Beispiel einer Kirchengemeinde, einem Sportverein oder einer Bildungseinrichtung. Da das Smartphone heute für viele Menschen zu ihren wichtigsten Habseligkeitengehört, wird es zu unserem täglichen Begleiter. Wie ich mit meinem digitalen Begleiter umgehe, entscheidet darüber, wofür ich meine Zeit einsetze und wer meine Aufmerksamkeit beanspruchen darf.
Warum soll sich Kirche damit beschäftigen?
These: Die Digitalisierung der Gesellschaft führt zur Veränderung von Privatheit. Stellt sie das Konzept der Privatheit in Frage?
Rosenstock: Grundsätzlich: Ja. Das Verhältnis von Intimität und Öffentlichkeit verändert sich. Jeder Nutzer von sozialen Netzwerken, die eine europaweite oder sogar weltweite Kommunikation ermöglichen, kann diese Veränderung mitverfolgen. Als Nutzer kann ich selbst entscheiden, was ich im digitalen Raum preisgebe. Allerdings muss mir bewusst sein, dass jede Information, die ich veröffentliche, mir nicht mehr allein gehört. Dabei hat sich ein utilitaristisches Rechtssystem durchgesetzt, das die Interessen eines Unternehmens, von Geheimdiensten oder bestimmten Öffentlichkeiten höher bewertet als die des Einzelnen. Geheimdienste, Suchmaschinenanbieter und Werbestrategen verfolgen unsere digitalen Spuren, um sich ein Bild von uns zu machen. Das geistige Eigentum von Unternehmen und Einzelpersonen landet auf Servern außerhalb Deutschlands, so dass es durch unseren Rechtsstaat nicht mehr geschützt werden kann. Die Verantwortung des Einzelnen über das, was er veröffentlichen oder als Geheimnis bewahren möchte, nimmt zu. Damit eröffnen sich auch neue Herausforderungen für den Daten- und Verbraucherschutz. Die Evangelische Kirche sollte dabei ihr gesellschaftliches Wächteramt noch stärker ausüben und im reformatorischen Sinn für das Menschenrecht auf ein Geheimnis, eine respektvolle Kommunikationskultur und digitale Zivilcourage eintreten. Auf einem vielbeachteten Medienkonzil (www.medienkonzil.de) werden wir unter dem Titel „Bürgersein in der digitalen Welt“ vom 21.–22. Mai in Nürnberg in einer Gruppe von Medienethikern ein ambitioniertes Medienpapier veröffentlichen, das die Ergebnisse der EKD-Synode weiterführen und mit konkreten gesellschaftlichen und kirchlichen Zielstellungen verbinden wird.These: Die Kirche verliert durch die Digitalisierung den Anschluss an die Menschen. Wird sich die Kirchenferne dadurch vergrößern?
Rosenstock: Das Wesen der Evangelischen Kirche ist Kommunikation und Gemeinschaft. Digitale Netzwerke eröffnen neue Chancen, da die gemeinsame Nutzung von sozialen Netzwerken auch neue Formen der sozialen Verbundenheit eröffnen. Dabei spielt die Glaubwürdigkeit einer Information und der Vorschuss an Vertrauen einem Menschen gegenüber, den ich nur als digitale Person oder Avatar kenne, eine große Rolle. Kirche kann hier, gegen die Vorherrschaft der ökonomischen Interessen von einzelnen Monopolisten, durch eigene Angebote und eine couragierte Netzpolitik eine freie Kommunikationskultur unterstützen. Besonders Jugendliche spüren heute, ob Kirche ein echtes Interesse für ihre Lebenswelten entwickelt oder eine bewahrpädagogische Medienerziehung verfolgt. In Gemeindehäusern und Jugendeinrichtungen kann Kirche Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen in besonderen Lebenslagen Zugang zu der digitalen Welt und eine qualifizierte Medienbildung eröffnen und damit ihre Potenziale fördern. Machen wir ihnen doch ein Angebot, den evangelischen Glauben im Netz kennenzulernen. Mit www.kirche-entdecken.de haben wir eine Plattform geschaffen, die sich vor allem an Kinder richtet, die in entkonfessionalisierten Räumen aufwachsen. Und mit dem Kinderkanal von ARD und ZDF ist mit www.chirho.tv ein crossmediales Angebot entstanden, das Grundschulkindern die biblischen Geschichten spielerisch vermittelt. Die Gruppe der Medioren, Menschen im mittleren Alter zwischen 60 und 75 Jahren, wächst aufgrund des demographischen Wandels immer stärker. www.unsere-zeiten.de gibt ihnen eine niederschwellige Plattform, sich über sinnorientierte Themen auszutauschen. Die evangelische Kirche sollte sich in ihren Angeboten dabei auch den Milieus zuwenden, die weniger bildungsbürgerlich geprägt sind. Die Medien bieten die Möglichkeit, wieder eine Brücke zu den Menschen zu bauen. Grafiken zum Text finden Sie im PDF der Perspektiefe