Zusammenarbeit tut gut! Kirche, Diakonie und Kommunen tragen gemeinsam Verantwortung für die Gesellschaft
INTERVIEW: Gespräch über Gemeinwesenorientierung mit Barbara Akdeniz, Bürgermeisterin und Sozialdezernentin der Stadt Darmstadt, Pfarrer Steffen Held, Dekan des Ev. Dekanats Dreieich-Rodgau, und Wilfried Kehr, Leiter der regionalen Diakonie Westerwald.
Herr Held, Herr Kehr, können Sie uns anhand eines Beispiels zeigen, wie Gemeinwesenorientierung bei Ihnen vor Ort stattfindet?
Held: Gemeinwesenorientierung geschieht in unserem Dekanat auf verschiedenen Ebenen. Da wir in den Sozialräumen mit anderen gesellschaftlichen Partnern im Austausch und gut vernetzt sind, fallen uns schnell Probleme auf, die wir nur gemeinsam lösen können. Und Kirche hat vor Ort die Fähigkeit, ganz unterschiedliche Menschen zusammenzubringen.
Im Augenblick treibt uns die zunehmende Spaltung der Gesellschaft um. Und dank der Förderung durch das Land Hessen konnten wir die Projektstelle „Glaube gemeinsam gestalten“ einrichten, die sich für Demokratieförderung einsetzt. Die mit der Aufgabe betraute Pädagogin organisierte beispielsweise einen Besuch im Konzentrationslager Buchenwald für junge Menschen unterschiedlichen Glaubens. Durch die intensive Auseinandersetzung mit der Zeit des Nationalsozialismus wurde anschaulich, wie wertvoll unsere Demokratie heute ist.
„Wir müssen gemeinsam schauen, was in unserem Sozialraum los ist und was wir für die dort lebenden Menschen benötigen.“
Pfarrer Steffen Held, Dekan des Ev. Dekanats Dreieich-Rodgau
Kehr: Ich möchte unseren „Arbeitskreis Soziales“ in Westerburg vorstellen. Initiiert von der Ev. Erwachsenenbildung und der Regionalen Diakonie arbeiten heute z. B. Vertreterinnen und Vertreter des Roten Kreuzes, der Parität, des Frauenzentrums, der Verbandsgemeinde, aller christlichen Gemeinden, des Ev. Dekanats sowie des Jobcenters, der Arbeitsagentur und der Jugendpflege zusammen, um möglichst viele Menschen aus Westerburg zu erreichen. Am 2. Adventssonntag beispielsweise organisieren wir gemeinsam einen Weihnachtsmarkt, der sich gezielt an Menschen mit wenig Geld richtet. Alle aus dem Arbeitskreis packen mit an. Der Leiter des Ordnungsamtes steht an der Spülmaschine, die Beginen organisieren die Kinderbetreuung. Es gibt Musik und für das leibliche Wohlergehen wird gesorgt.
Mit welchen kirchlichen Einrichtungen arbeiten Sie, Frau Akdeniz, zusammen?
Akdeniz: Ich arbeite fast täglich mit kirchlichen Einrichtungen zusammen, da wir in Darmstadt Wert auf Subsidiarität legen, sodass viele Aufgaben von unterschiedlichen Trägern abgedeckt werden. Kirche ist ein Baustein der sozialen Infrastruktur der Stadt. Das fängt bei der Kinderbetreuung an. Wir haben ein regelmäßiges Trägertreffen und versuchen unsere Strategien abzusprechen. Das geht über die Jugendarbeit und die Arbeit mit Geflüchteten bis hin zur Obdachlosenarbeit und Drogen- und Suchthilfe.
Wenn es um Kirchenasyl geht, haben wir zwei sehr mutige und schon lange engagierte evangelische Kirchengemeinden, die auch trotz des politischen Gegenwindes ihre Arbeit toll machen und nach Möglichkeit von mir unterstützt werden. Denn wir brauchen gerade heute Stabilität und Menschlichkeit.
„Wir können uns aufeinander verlassen und arbeiten vertrauensvoll zusammen. Und wir machen dadurch die Stadt gemeinsam zu einem sozialeren Ort.“
Barbara Akdeniz, Bürgermeisterin und Sozialdezernentin der Stadt Darmstadt
Warum sind Kommunen wichtige Ansprechpartnerinnen für Kirche und Diakonie und umgekehrt, und wie sind Ihre Erfahrungen?
Held: Kirche, Diakonie und Kommunen tragen Verantwortung für die Gesellschaft. Das ist der Auftrag, der uns verbindet. Und ich bin der festen Überzeugung, wenn wir zusammenarbeiten und unsere jeweiligen Kompetenzen einbringen, können wir einfach mehr Gutes für die Menschen in unserem Sozialraum tun. Und da die Kirchengemeinden vor Ort nah bei den Menschen sind, erreichen sie auch noch andere Milieus. Beispielsweise haben wir in einer Kirchengemeinde das „Café Grenzenlos“. Ehrenamtliche, zum Teil mit eigenen Fluchterfahrungen oder mit Migrationshintergrund, treffen sich im Café mit Flüchtlingen, um ihre Erfahrungen zu teilen oder ganz konkret im Alltag und bei Behördengängen zu unterstützen. Einfach aus der Haltung heraus, anderen helfen zu wollen.
In meinem Bereich habe ich die Zusammenarbeit mit den Kommunen immer als vertrauensvoll erlebt, auch wenn wir manchmal nicht einer Meinung sind. Aber der Wille, einen gemeinsamen Dienst für die Menschen zu tun, vereint uns und bis jetzt kamen wir immer zu guten Lösungen.
Akdeniz: In erster Linie geht es um eine zuverlässige Finanzierung der Einrichtungen. Da können sich die Träger sehr gut auf uns verlassen, auch wenn das Budget kleiner wird. Aber es geht auch um das Verständnis darüber, wie wir unsere Stadt gestalten wollen. Wer gehört dazu? Wer darf mitten in der Stadt einen Platz haben? Darüber gibt es politisch sehr unterschiedliche Meinungen. Manche beispielsweise sagen „Menschen mit Alkohol- oder Suchtproblemen und die entsprechenden Beratungseinrichtungen haben mitten in der Stadt nichts zu suchen“. Aus meiner Sicht aber muss das eine Gesellschaft ertragen und auch sehen, dass es solche Schicksale und Probleme gibt. Und da weiß ich die Liga der freien Wohlfahrtspflege insgesamt und mit ihr die regionale Diakonie an meiner Seite. Für diese Unterstützung bin ich sehr dankbar und freue mich, dass Kirche und Diakonie an dieser Stelle Haltung zeigen. Wir können uns aufeinander verlassen und arbeiten vertrauensvoll zusammen. Und wir machen dadurch die Stadt gemeinsam zu einem sozialeren Ort.
Kehr: Ich möchte gerne das Thema Subsidiaritätsprinzip aufgreifen, das Frau Akdeniz schon angesprochen hat. Nicht alle Kommunen haben die Träger der freien Wohlfahrtspflege im Blick und sehen die hohe fachliche Kompetenz, die wir in vielen Bereichen einbringen. Beispielsweise hat das Land Rheinland-Pfalz vor einigen Jahren ein neues Kitagesetz beschlossen, das auch Kitasozialarbeit ermöglicht. Unsere Kreisverwaltung ging ganz selbstverständlich davon aus, dass das Jugendamt diese Aufgabe übernehmen wird. Da die Diakonie und andere Träger auf diesem Gebiet aber bereits Erfahrungen, Kompetenzen, Konzepte und entsprechende Beratungsstellen vorzuweisen haben, entschlossen wir uns, gemeinsam Lobbyarbeit zu machen und uns für die Kitasozialarbeit anzubieten. Das war aber kein Selbstläufer. Mittlerweile betreuen wir 30 Prozent der Kitas mit der Kitasozialarbeit. Es wäre wünschenswert, wenn uns Kommunen und Kreise von Anfang an mit einbeziehen.
„Mittlerweile betreuen wir 30 Prozent der Kitas mit der Kitasozialarbeit. Es wäre wünschenswert, wenn uns Kommunen und Kreise von Anfang an mit einbeziehen.“
Wilfried Kehr, Leiter der regionalen Diakonie Westerwald
Welche Themen sollten aus Ihrer Sicht noch gemeinsam beraten werden, und wie gelingt die Zusammenarbeit?
Akdeniz: Kirchliche Prozesse wie die Neustrukturierung der Ev. Kirche in Hessen und Nassau in Nachbarschaftsräume werden Auswirkungen auf die Kommunen haben. Bis auf eine Kirchengemeinde, aber auch eher zufällig, kam noch niemand auf mich zu, um beispielsweise über freiwerdende Räume zu sprechen. Im Fall der angesprochenen Kirchengemeinde hätte ich vielleicht auch eine passende Idee. Es ist für mich also durchaus relevant zu erfahren, wo Räumlichkeiten aufgegeben oder anders genutzt werden sollen. Da wünsche ich mir früher einbezogen zu werden, nicht erst, wenn die Entscheidungen gefallen sind. Aber ich werde die Initiative ergreifen und den Dekan anrufen, er ist sicher sehr offen für einen Austausch zum Thema.
Held: Grundsätzlich hilft es zu reden, wie in so vielen Bereichen des Lebens. Bei uns suchte die Kommune dringend ein neues Zuhause für ihr Familienzentrum, da sie in der bisherigen Liegenschaft mehr Platz für die Schulbetreuung benötigte. Nach diversen Gesprächen fand man dann eine gute und sinnvolle Lösung. In einem naheliegenden Gemeindehaus gab es eine ausreichend große Anzahl an Räumen, sodass jetzt das städtische Familienzentrum und das kirchliche Begegnungszentrum unter dem Dach eines kirchlichen Hauses in den Sozialraum wirken können. Das ist aus meiner Sicht ein gutes Beispiel, wie Zusammenarbeit gelingen kann. Wir müssen gemeinsam schauen, was in unserem Sozialraum los ist und was wir für die dort lebenden Menschen benötigen.
Kehr: Daneben braucht es auch klare Absprachen und eine Kommunikation auf Augenhöhe. Dadurch entstehen weniger Reibungsverluste. Auch halte ich es für zielführend, dass man sich regelmäßig austauscht, auch wenn gerade keine Entscheidungen anstehen. Das schafft Vertrauen. Und manchmal braucht man auch Geduld.
Akdeniz: Ich habe den Eindruck, dass wir alle momentan überwiegend Krisenmanagement betreiben. Gemeinsam sollten wir uns darauf besinnen, was gut läuft. Wir haben eine gute Infrastruktur, viele Menschen, die ihren Beitrag dazu leisten, so viele Ehrenamtliche, die sich sozial engagieren. Das sollten wir nicht als selbstverständlich betrachten und viel mehr gemeinsam in die Öffentlichkeit bringen.