Christliche Botschaft als Gottesdienst im Alltag
THEOLOGISCHE EINORDNUNG: Eine Theologin und zwei Theologen beschreiben, warum sich Kirchen im Gemeinwesen engagieren müssen
Prof. Dr. Ute Pohl-Patalong, Christian-Albrechts-Universität Kiel
Den gemeinwesenorientierten Ansatz sehe ich als ausgezeichnete Möglichkeit, wie die Kirche ihrem theologischen Auftrag im 21. Jahrhundert nachkommen kann. Weil der christliche Glaube nicht mehr eine selbstverständliche Grundlage der Kultur ist, muss die Kirche die christliche Botschaft viel stärker plausibel machen: Menschen müssen nicht nur hören, sondern erleben, dass die christliche Botschaft etwas mit ihnen persönlich zu tun hat und sich positiv auf ihr Leben auswirkt.
Zudem macht die Kirche ernst damit, sich als Partnerin von Menschen statt als religiöse Autorität zu verstehen. Indem sie nicht länger Angebote für Menschen konzipiert (und damit zu wissen meint, was Menschen brauchen), fragt und sucht sie gemeinsam mit Menschen danach. Leitmotiv ist dabei die Perspektive des Reiches Gottes, in dem alle Menschen so leben können, wie Gott sie gemeint hat.
Dekan Volkard Guth, Ev. Dekanat Wetterau
Kirche im Gemeinwesen, das ist gelebte Religiosität und kirchliche Präsenz in urbanen und ländlichen Räumen in unterschiedlichsten Formen. Relevant können wir als Kirche jedoch nur sein, wenn wir konsequent nach den Menschen vor Ort fragen. Der Evangelist Lukas beschreibt in seinem Evangelium mit der Geschichte von der Sendung der 72 eine solche Hinwendung zu den Menschen außerhalb der (kern-)gemeindlichen Wirklichkeit (Lk.10,1–9): Da muss Kirche zu allererst selbst „fremd“ werden. Neben der geteilten Tischgemeinschaft gibt es da noch die andere, die Arbeits- und Lebensgemeinschaft. Denn wenn jeder „Arbeiter seines Lohnes wert ist“ (V.7), dann geht es nicht um Essen für eine gute Predigt, sondern dann steht hinter diesem Satz die Vorstellung, dass die 72 beim Betreten der Städte und Dörfer ihre Zeit darauf verwendeten, unter, mit und neben den Menschen dort ihr Handwerk zu verrichten. Dann tauchen die Gesendeten nicht als reisende Propheten oder religiöse Botschafter auf, sondern als die, die mit den Leuten zusammenarbeiten, die also in jeden (!) Aspekt des Lebens der Menschen eintauchen und so in Beziehung mit ihnen treten. Aus dieser Haltung und Bewegung formt sich Kirche Jesu.
Oberkirchenrat Dr. Steffen Merle, Evangelische Kirche in Deutschland (EKD)
„Christus hielt es nicht für einen Raub, Gott gleich zu sein, sondern entäußerte sich selbst.“ (Phil. 2,6)
Glaube ist exzentrisch, Glaube ist selbstvergessen. Ein sich selbstvergessender Glauben ist (neben anderen) ein theologisches Fundament der Gemeinwesenorientierung. Ja – es ist herausfordernd, sich provozieren zu lassen von den Aufgaben, denen sich Gemeinwesenarbeit zuwendet. Aber genau darin steckt meines Erachtens eine große Verheißung: Dort setzt sich Glaube aus. Das meint, sich selbst vergessen. Und: Sich Mehrdeutigkeiten, Missverständnissen, Vorurteilen, systemfremden Kontexten, ökonomischen Zwängen usw. auszusetzen. Aber genau darin entstehen auch neue und innovative Möglichkeiten. Für eine Kirche, die (einer Institutionslogik folgend) auf verstetigende Selbstabsicherung aus ist, wahrlich eine Herausforderung. Ein strategisches Dilemma! Denn Kirche ist auch Gemeinschaft, Bewegung, braucht immer wieder Impulse, Aufbrüche – semper reformanda. Und die kommen aus vernetzten Prozessen. Genau das passiert in der Gemeinwesenorientierung mit (und nicht durch) Kirche.