Ständig mobil? Von der Lust des Sonntags
THEOLOGISCHE GEDANKEN: „Ich bin dann mal weg“ – so hieß Hape Kerkelings Bestseller, in dem er seine Erfahrungen auf dem Jakobsweg schildert. „Ich bin dann mal weg“ hat mich angeregt darüber nachzudenken, wohin ich weg bin. Zu Terminen im Land oder in der Stadt.
von: Pfarrer Dr. Hubert Meisinger, Referat Umwelt & Digitale Welt, h.meisinger@zgv.info
Mir ist ein altes, aus heutiger Perspektive etwas sexistisches Lied in den Sinn gekommen: Ivan Rebroff‘s „Mit der Troika in die große Stadt“ – die „Pferdchen laufen wie der Wind“ dorthin – und es möge ihm (und mir, der es hier zitiert) verziehen werden –, „wo die schönen Mädchen sind“. An späterer Stelle heißt es dann „Und das Herz, es springt und lacht, weil das so viel Freude macht. Wenn die Räder schnell sich dreh‘n und die Mähnen weh‘n“ (youtube.com/watch?v=jXBdQmvuUHg). Die pure Lust am Fahren erklingt bei dieser Musik, reißt mich beim Zuhören mit in die Bewegung, in die Freude. Leidenschaft, Mobilität und Erlebnis gehören hier unmittelbar zusammen. Freiheit gelingt unmittelbar „auf dem Weg“, nicht erst an dessen Ziel. Mein Seelsorge-Ausbilder im Theologischen Seminar Herborn, Prof. Hartmann, hat damals, Mitte der 90er-Jahre des letzten Jahrhunderts, ein Buch geschrieben: „Freude am Fahren“. Er wollte der zu dieser Zeit allgegenwärtigen Kritik an den unbegrenzten Möglichkeiten der Mobilität in Deutschland etwas erwidern, zeigen, wie Mobilität auch Freude machen kann. Und darf.
Damit sind wir mitten im Jetzt angekommen. Wieder stellt sich die Frage, ob wir alles, was unsere Mobilität ermöglichen würde, machen dürfen. „Über den Wolken muss die Freiheit wohl grenzenlos sein“, dichtet Reinhard Mey, „alle Ängste, alle Sorgen bleiben darunter verborgen“. Auf Wolke 7, im siebten Himmel lässt es sich unbeschwert leben. Der Ausdruck siebter Himmel stammt wohl von Aristoteles. Das siebente Gewölbe, das Empyreum, der siebte Himmel, ist nach ihm jener Bereich, der die Welt mit all ihren Planeten, Sternen, Monden und Sonnen gegen das Nichts abschließt. Manchmal wird es so überliefert: Das Altertum kannte sieben Himmelssphären – sieben Himmel genannt. Hinter dem letzten sichtbaren Planeten Saturn, dem Hüter der Schwelle, endete die materielle Welt, und es kam nur noch die unsichtbare geistige Welt, die Welt der Fantasie, Wünsche und Träume. Wer möchte angesichts der multiplen Krisen, die unsere Neuzeit prägen, nicht dorthin flie(g)hen?
„Der Zustand unseres Planeten erträgt kein Greenwashing mehr. Kipppunkte rücken näher, die das Klima auf der Erde bleibend verändern werden. Mit unvorhersehbaren Folgen für das Leben in Nord und Süd, in Ost und West.“
Dr. Hubert Meisinger
Ich schaffe es nicht, über den Wolken zu bleiben. Sehnsucht danach wachhalten, ja. Aber darüber den Sinn für die Realität verlieren, nein. Die Realität sieht düster aus. Auf dem Weg zu mehr Klimaschutz ist die Mobilität ein Ausreißer. Dem Verkehrsminister will es nicht gelingen, sein Sektorenziel zu erfüllen. Der öffentliche Personennahverkehr wird nicht ausreichend gestärkt, auf dem Land müsste sich viel mehr bewegen. Die „Schiene“ kommt nicht voran, Pünktlichkeit und Verspätungen liegen im Wettstreit. Marode Infrastruktur müsste erneuert werden. Das Geld, das in den Bau neuer Autostraßen gesteckt wird, fehlt für andere Aufgaben. Das ist erkannt worden im Verkehrsministerium. Doch gleichzeitig wurden in einer Überarbeitung des bundesdeutschen Klimaschutzgesetzes die Sektorenziele abgeschwächt, indem sie miteinander verrechnet werden können. Schönfärberei, „Greenwashing“. Meist wird dieser Begriff als negative Kennzeichnung verwendet. Meines Erachtens trägt er den Charakter eines Kriteriums: Am Umgang mit „Greenwashing“ ist abzulesen, wie ernst es Politik, Gesellschaft, Wirtschaft und Kirche mit Klimaschutz und Nachhaltigkeit meinen. Natur- wie Geisteswissenschaftler*innen sind sich einig: Der Zustand unseres Planeten erträgt kein Greenwashing mehr. Kipppunkte rücken näher, die das Klima auf der Erde bleibend verändern werden. Mit unvorhersehbaren Folgen für das Leben in Nord und Süd, in Ost und West. Die Marsmission, von vielen Staaten unserer Welt geplant, mag viel zu spät erst Menschen dahin bringen, wovon schon in den 60er-Jahren des letzten Jahrhunderts geträumt wurde: „Der Weltraum, unendliche Weiten. Wir schreiben das Jahr 2200. Dies sind die Abenteuer des Raumschiffs Enterprise, das mit seiner 400 Mann starken Besatzung 5 Jahre unterwegs ist, um fremde Galaxien zu erforschen, neues Leben und neue Zivilisationen. Viele Lichtjahre von der Erde entfernt dringt die Enterprise in Galaxien vor, die nie ein Mensch zuvor gesehen hat“ (fernsehserien.de/raumschiff-enterprise). 2200 – um überhaupt dahin zu kommen, müssen wir es schaffen, das 1,5-Grad-Limit von Paris einzuhalten. Das wir in Deutschland schon gerissen haben. Sind wir nicht vielmehr „Major Tom“, der sich einen Scherz erlaubt und grenzen- und ziellos davonschwebt (youtube.com/watch?v=KQRaj1vcnrs)? Mobilität weiter ohne Grenzen? „Ärzte“ ja, ohne Grenzen. Auch für unseren kranken Planeten. Nicht aber unsere Mobilität – sie braucht Grenzen. Von der Politik vorgegebene oder von Teilen der Gesellschaft sich selbst auferlegte Grenzen. Es war ein mutiger, ein konsequenter Schritt einer zurückliegenden EKD-Synode, ein Tempolimit auf Autobahnen von 100 km/h und auf Landstraßen von 80 km/h zu nennen. Kurz war die Aufregung darüber in und außerhalb „Kirchens“, danach sind alle wieder den alten Pfadabhängigkeiten gefolgt. Immer schneller, immer weiter. Die durchschnittliche Motorleistung neu zugelassener Personenkraftwagen in Deutschland von 2005 bis 2021 kennt grundsätzlich nur eine Richtung: nach oben – von 2021 abgesehen, da ging es um wenige PS nach unten (de.statista.com/statistik/daten/studie/249880/umfrage/ps-zahl-verkaufter-neuwagen-in-deutschland/). Ob das eine Trendwende ist, wage ich zu bezweifeln. Gerade der E-Mobilität fehlen die Normalbürger*innen-tauglichen Fahrzeuge. Nicht nur ein US-Autobauer prahlt mit horrenden PS-Zahlen um die Gunst der Käufer*innen seiner PS-Boliden.
Full-Stop. So geht es nicht weiter. Schneller, höher, weiter muss ein Ende haben. Change by design oder change by desaster? Zu wenig ambitioniertes Design führt immer noch zum Desaster. Wohin wollen wir noch gelangen?
Wie gut, dass es den Sonntag oder den Sabbat gibt. Da hat dieses Schneller, Höher, Weiter ein Ende. Im Idealfall blickt man an diesem Tag auf das Vorhergehende zurück und stellt sich auf das Kommende ein. Und genießt den Augenblick. Nicht faustisch als Vorbote des Todes (Faust: Eine Tragödie – Kapitel 7, Studierzimmer), sondern biblisch als Ausruhen und mit sich selbst ins Reine kommen. In Zukunft vielleicht wieder an auto-freien Sonntagen, so es neue Sektorziele in der Mobilität erfordern? Prima Idee von Minister Wissing. Bruce Low konnte augenzwinkernd singen: „Am SIEBTEN Tage ruhte der liebe Gott sich aus. Auf einer kleinen Bank vor seinem gold‘nen Haus“ (songtexte.com/songtext/bruce-low/das-kartenspiel-4bc25fa6.html / youtube.com/watch?v=lfOhnk5xhW8).
Mut zur Entschleunigung ist das, was mir der Sonntag, der Sabbat ins Gewissen schreibt, Lust am Sonntag: „Hei, lass all Dein Rennen und Laufen um die Siegerkrone sein. Du bist schon längst am Ziel.“ Du BIST. Du BIST DU. Ungeachtet aller Anstrengungen sind wir schon längst Gottes geliebte Geschöpfe. Und mit dieser Liebe gesegnet können wir uns auf den Weg machen, die Welt gerechter zu gestalten. Schöpfungsgemäßer. Klimafreundlicher. Als Einzelne, als kleine und große Gemeinschaft. Als Gemeinde oder Nachbarschaftsraum „durch das Meer der Zeit“ (EG 604). In der Hoffnung, dass Gott bei Gottes Schöpfung bleiben wird. Sie erhält und trägt. Gegen alle Schreckensszenarien unserer Zeit. Ja, der „Countdown läuft“.