Das politische System der EU – weltweit einzigartig
HINTERGRUND: Vom 6. bis zum 9. Juni 2024 finden in den 27 Mitgliedsstaaten der Europäischen Union (EU) die Wahlen zum Europäischen Parlament (EP) statt. Rund 350 Millionen wahlberechtigte Bürgerinnen und Bürger ab 16 Jahren sind dazu aufgerufen, 720 Abgeordnete für das EP zu wählen. Nicht wenigen Wahlberechtigten erscheinen EU-politische Themen jedoch weit weg und komplex. Hinzu kommen, insbesondere vor den Wahlen, Stimmen, welche die EU stark kritisieren und teilweise sogar ganz infrage stellen.
von: Dr. Julia Dinkel, Referat Arbeit & Soziales, j.dinkel@zgv.info
Die Europäische Union ist weltweit einzigartig – ein „Gebilde sui generis“ wie es in der Wissenschaft auch genannt wird. 27 souveräne und demokratische Staaten in Europa bilden einen sogenannten Staatenverbund, wobei auch das Wort „Staatenverbund“ als Bezeichnung für die EU erst durch die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichtes (Maastricht-Urteil 1993 / Lissabon-Urteil 2009) neu definiert wurde und seitdem häufig zur Beschreibung der EU verwendet wird.
Ausgehend von der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl im Jahr 1952 mit sechs Mitgliedsstaaten bis zur Gründung der Europäischen Union im Jahr 1993 hat sich das politische System der EU im Zuge der europäischen Integration immer weiter entwickelt wie auch die Befugnisse, über die die EU mittlerweile verfügt.
Kernelement des Staatenverbundes EU ist nach wie vor, dass die Mitglieder ihre staatliche Souveränität behalten und kein Bundesstaat wie beispielsweise die USA sind. Kennzeichnend für das politische System der EU ist, dass es sowohl überstaatliche als auch zwischenstaatliche Elemente aufweist. Dies spiegelt sich auch in der Zusammensetzung der einzelnen Organe der EU wider. Während im Europäischen Rat (Staats- und Regierungschefs) und Rat der Europäischen Union (Ministerrat) die einzelnen Staaten mit ihren Regierungen vertreten sind und so das zwischenstaatliche Element ausmachen, vertritt das Europäische Parlament bei der Rechtsetzung direkt die Bürgerinnen und Bürger der EU und steht so für das überstaatliche Element wie auch die Europäische Kommission oder der Gerichtshof der Europäischen Union (EuGH).
Kritik am politischen System der EU ist auch dieser Mischung aus zwischenstaatlichen und überstaatlichen Elementen geschuldet. Auch wenn die EU eben kein Bundesstaat ist, so hat sie als Staatenverbund dennoch die Befugnis, in bestimmten Bereichen Gesetze zu erlassen. In welchen Bereichen die EU Gesetze erlassen kann, bestimmt die EU nicht selbst, sondern die EU muss explizit von den Mitgliedsstaaten ermächtigt werden, um in einem bestimmten Bereich handeln zu können. So hat die EU beispielsweise weitgehende Befugnisse im Bereich der Wirtschaftspolitik, jedoch keine Zuständigkeit im Bereich der Verteidigungspolitik. Die Zahl an Gesetzen und Verordnungen, die auf der Ebene der EU erlassen werden, hat seit den 1990er-Jahren zugenommen. Am Gesetzgebungsverfahren innerhalb der EU sind die Europäische Kommission, der Rat der EU sowie das Europäische Parlament beteiligt. Hervorzuheben ist, dass das Europäische Parlament in den letzten Jahrzehnten zunehmend an Einfluss gewonnen hat und seit dem Vertrag von Lissabon dem Rat der EU in der Gesetzgebung nahezu gleichgestellt ist.
„Allzu oft wird leider auch vergessen, dass wir auch aufgrund der EU seit gut 75 Jahren relativen Frieden und Wohlstand in Europa haben.“
Dr. Julia Dinkel
Demokratiedefizit
Obwohl in der EU nur demokratische Staaten Mitglied sein können, wird über ein Demokratiedefizit der EU selbst diskutiert. Gemeint ist hiermit die Frage, ob das politische System der EU selbst ausreichend demokratisch legitimiert ist. Schließlich wird nur das Europäische Parlament von den Bürgerinnen und Bürgern der EU direkt gewählt und damit legitimiert. Der Rat der EU hingegen ist nur indirekt über nationale Wahlen legitimiert und die nationalen Ministerinnen und Minister vertreten die Staaten. Die Europäische Kommission, die formal das alleinige Initiativrecht hat, Gesetzesvorhaben auf den Weg zu bringen, ist ebenfalls nur indirekt legitimiert. Kommissionspräsidentin und Kommissare werden jeweils von den Mitgliedsstaaten vorgeschlagen. Das Parlament kann die vorgeschlagenen Kommissionspräsidenten sowie Kommissare befragen und prüfen und bei Bedarf auch ablehnen. Selbst vorschlagen kann es Kandidatinnen und Kandidaten jedoch nicht. Dies bleibt den Mitgliedsstaaten vorbehalten. Im institutionellen Gefüge zwischen Rat der EU, europäischem Parlament und Kommission zeigt sich die Mischung aus zwischenstaatlichen und überstaatlichen Elementen, was immer wieder zu Kritik führt.
Kritisiert wird im Rahmen des Demokratiedefizits auch immer wieder die Tatsache, dass die einzelnen Abgeordneten des Europäischen Parlaments nicht die gleiche Zahl an Bürgerinnen und Bürgern vertreten und somit der Grundsatz der Wahlgleichheit verletzt werde. Ein Abgeordneter aus einem kleineren Mitgliedsstaat wie Luxemburg, Malta oder Zypern vertritt deutlich weniger Menschen als ein Abgeordneter aus einem größeren Mitgliedsstaat wie Deutschland, Frankreich oder Spanien. Dieses Problem tritt nicht nur im politischen System der EU auf, sondern findet sich auch im politischen System der USA, Frankreichs und Deutschlands wieder. Letztlich wird durch diese Ungleichheit in den Stimmen sichergestellt, dass auch kleinere Staaten adäquat vertreten sind und nicht von den größeren Mitgliedsstaaten dominiert werden können.
Grundlage dieser Kritiken am politischen System der EU ist, dass an den Staatenverbund EU die gleichen Maßstäbe angelegt werden wie an einen Staat. Es sollte und darf aber nicht vergessen werden, dass der Staatenverbund EU eben kein Staat ist, sondern weltweit etwas Einzigartiges.
Nationale oder europäische Wahlen?
Spätestens im Mai 2024 wird der Wahlkampf zu den Wahlen zum Europäischen Parlament beginnen. Und auch wenn die einzelnen Parteien auf europäischer Ebene Spitzenkandidat*innen benennen, so bestimmen jedoch in der Regel landesspezifische und nationale Themen den Wahlkampf. Im europäischen Parlament werden von den Fraktionen zumeist andere Themen behandelt. Geschuldet ist diese Problematik auch der Tatsache, dass vielen Bürgerinnen und Bürgern auch Informationen darüber fehlen, welche Themen auf europäischer Ebene gerade behandelt werden und wie sich die einzelnen Fraktionen zu diesen Themen positionieren. Es fehlt in der EU (noch) an Verbänden, Bürgerinitiativen und Medien, die vermitteln und den Meinungsbildungsprozess auf europäischer Ebene mitgestalten. Ein Schritt hin zu europäischen Wahlen wäre, wenn die Parteien im Wahlkampf konsequent europäische Themen in den Vordergrund stellen würden. Stattdessen dominieren innenpolitische Themen den Wahlkampf und die Wahl zum Europäischen Parlament wird als nationale Nebenwahl angesehen, die mit europäischen Themen wenig zu tun hat.
Dabei gerät leider allzu oft in Vergessenheit, dass viele der aktuellen Herausforderungen nicht im nationalen Alleingang, sondern nur im Verbund mit anderen Staaten gelöst werden können. Die Bürgerinnen und Bürger wissen eigentlich, dass Themen wie Klimawandel oder Migration nicht im nationalen Alleingang bearbeitet werden können. Allzu oft wird leider auch vergessen, dass wir auch aufgrund der EU seit gut 75 Jahren relativen Frieden und Wohlstand in Europa haben. Bei all den Problemen, die die EU und das politische System der EU haben, darf dies nicht vergessen werden. Reform und Fortschritt in der EU ja, zurück zu nationalen Alleingängen nein. Der Staatenverbund EU ist weltweit einzigartig.