Wie weit darf Protest gehen? Ein Blick auf die aktuellen Proteste der Klimabewegung
JURISTISCHE EINORDNUNG: Vor allem im Kontext der Klimabewegung wurde in den letzten Monaten viel über zivilen Ungehorsam debattiert, denn seit Anfang 2022 machen die Aktivist*innen der Letzten Generation mit Blockaden auf wichtigen Straßen in ganz Deutschland auf die Klimakrise aufmerksam. Mittlerweile nutzen sie auch weitere Formen des Protests, um an Politiker*innen im Hinblick auf Maßnahmen zum Klimaschutz und zur Klimagerechtigkeit zu appellieren.
von: Lena Herbers, Institut für Soziologie, Albert-Ludwigs-Universität Freiburg
Die Aktivist*innen bewegen sich auf historischen Spuren: Insbesondere seit den 1970er-Jahren, vor allem im Kontext der Proteste gegen den Nato-Doppelbeschluss und Atomanlagen, kommt ziviler Ungehorsam in Deutschland auf. Er tritt immer dann auf, wenn die Themen, um die es geht, besonders umstritten oder krisenhaft sind. Aber anders als bei anderen Protestformen wie Demonstrationen oder Kundgebungen, die ganz eindeutig durch die Versammlungsfreiheit im Grundgesetz (Artikel 8) geschützt sind, besteht die Kerneigenschaft von zivilem Ungehorsam darin, dass die Aktivist*innen in einem bestimmten Rahmen ein Gesetz brechen, um auf einen Missstand hinzuweisen.
Im Kern steht dabei die Frage, ob und wie solche Protestformen als legitim, also gerechtfertigt, eingeordnet werden können, auch wenn die Aktivist*innen Straftaten begehen. Der amerikanische Philosoph John Rawls (1921–2002) bringt dieses Dilemma in seinem Hauptwerk „Eine Theorie der Gerechtigkeit“ auf den Punkt: „An welchem Punkt ist die Pflicht, sich den von einer Gesetzgebungs-Mehrheit beschlossenen Gesetzen […] zu fügen, angesichts des Rechtes zur Verteidigung seiner Freiheiten und der Pflicht zum Widerstand gegen Ungerechtigkeit nicht mehr bindend?“ Es geht bei der Auseinandersetzung mit zivilem Ungehorsam also darum, wann es legitim – also gerechtfertigt – ist, Gesetze zu brechen, um für ein höheres Ideal einzustehen.
Demonstration gegen Castor-Transport, 2010 (Foto: epd-bild / Christof Krackhardt)
Der Gegenstand des Protests der Klima-Aktivist*innen spielt dabei eine wichtige Rolle: Konkret geht es hier um den Schutz vor der Klimakrise und damit den Erhalt unseres Ökosystems und unserer Lebensgrundlagen. Auch das Bundesverfassungsgericht nahm in seinem Beschluss vom 24.03.2021 an, dass die Politik in Bezug auf den Klimaschutz verpflichtet sei, die Freiheitsrechte künftiger Generationen zu achten und zu schützen.
Betrachtet man Rawls Frage genauer, kann man zwei unterschiedliche Ebenen der Rechtfertigung erkennen. Neben der moralischen gibt es auch die juristische Form der Rechtfertigung, die einander nicht entsprechen müssen. Eine Protestaktion kann moralisch gerechtfertigt sein und gleichzeitig aus juristischer Perspektive als verurteilungswürdige Straftat eingeordnet werden. Im letzteren Fall ist die Frage der Rechtfertigung in das Rechtssystem eingebettet, innerhalb dessen Rahmen die Richter*innen im Einzelfall über die Strafbarkeit einer Protestaktion entscheiden.
„Ziviler Ungehorsam selbst ist dabei keine Straftat; vielmehr wird häufig im Rahmen einer Protestaktion auch eine Straftat begangen.“
Lena Herbers
Ziviler Ungehorsam selbst ist dabei keine Straftat; vielmehr wird häufig im Rahmen einer Protestaktion auch eine Straftat begangen: beispielsweise Hausfriedensbruch (§ 123 StGB) durch Blockaden oder Besetzungen auf fremdem Gelände, Sachbeschädigung (§ 303 StGB) durch Graffiti, Nötigung (§ 240 StGB) durch Blockaden von Straßen oder Schienen, wenn diese nicht durch das Versammlungsrecht geschützt sind. In diesem Fall kommt auch eine Störung öffentlicher Betriebe (§ 316b StGB) in Betracht.
Inwieweit in solchen Fällen eine juristische Rechtfertigung in Betracht kommt, ist umstritten. Vielfach wird diese Möglichkeit der Rechtfertigung von Jurist*innen aus Theorie und Praxis grundsätzlich abgelehnt. Die Aktivist*innen werden deshalb im Nachgang für ihre Proteste verurteilt, zumeist mit Geldstrafen. Dabei gehen die Jurist*innen in ihrer Entscheidungspraxis nicht auf die intensiven theoretischen Überlegungen vieler Philosoph*innen und Politikwissenschaftler*innen von Hannah Arendt über Jürgen Habermas zu Robin Celikates ein. Vielmehr gibt es eine eigene Debatte darüber, ob und inwieweit es rechtliche Möglichkeiten einer Rechtfertigung geben könnte.
In der deutschen Verfassung gewährt Artikel 20 Absatz 4 Grundgesetz ein Recht zum Widerstand, das aber darauf beschränkt ist, eine Gefahr für die verfassungsmäßige Ordnung abzuwehren, und darauf ausgelegt ist, die bestehende Ordnung zu erhalten. Es gilt nur in Ausnahmesituationen in einem eng umgrenzten Geltungsbereich. Ziviler Ungehorsam wird davon nach einhelliger Meinung nicht erfasst.
Lützerath, 2023 (Foto: rebaixfotografie - AdobeStock)
Ob ziviler Ungehorsam darüber hinaus durch die rechtsstaatliche Ordnung legitimiert sein kann, ist allerdings höchst umstritten. Eine Rechtfertigung könnte sich vor allem aus dem rechtfertigenden Notstand (§ 34 StGB) ergeben, denn dieser regelt die Konfliktsituation zwischen zwei Rechtsgütern: Wenn eine Notstandslage, also eine gegenwärtige Gefahr für ein Rechtsgut besteht, darf in fremde Rechtsgüter eingegriffen werden. Diese Handlung muss dann zur Abwehr der Gefahr erforderlich, verhältnismäßig und angemessen sein. In der Folge ist die Tat dann nicht mehr rechtswidrig und eine Bestrafung entfällt. In Bezug auf die Proteste der Klimabewegung könnte dies ein möglicher Weg sein, da die Proteste für mehr Klimaschutz der Abwendung einer existenziellen Gefahr dienen könnten. Eine gegenwärtige Notlage würde sich aus der Klimakrise ergeben, die eine Gefahr für Leben, Gesundheit oder Eigentum darstellt. Ebenso könnte der Klimaschutz selbst ein schützenswertes Rechtsgut sein, das in Gefahr ist. Der zivile Ungehorsam müsste dann erforderlich und angemessen sein, um die Gefahr abzuwehren. Ob dies ein juristisch vertretbarer Weg ist, wird dabei unterschiedlich bewertet. In einem überraschenden und umstrittenen Urteil des Amtsgerichts Flensburg im Dezember 2022 wurde ein Aktivist, der einen Baum besetzt hatte, vom Vorwurf des Hausfriedensbruchs freigesprochen, und zwar aufgrund des rechtfertigenden Notstandes (§ 34 StGB), der sich aus dem Klimaschutz ableiten ließ. Die zuständige Richterin wertete hier die Baumbesetzung als das mildeste geeignete Mittel, um das von Rodung bedrohte Waldstück im Sinne des Klimaschutzes zu erhalten. Ob diese Argumentation auch für die Straßenblockaden der Aktivist*innen der Letzten Generation gelten könnte, wird kontrovers diskutiert. Dieser Weg wird vielfach mit Verweis darauf, dass die Proteste nicht geeignet seien, um Klimaschutz zu erreichen beziehungsweise die Gefahr der Klimakrise abzuwehren, als nicht überzeugend abgelehnt. Hingegen sieht der Richter am rheinland-pfälzischen Verfassungsgerichtshof Michael Hassemer eine Möglichkeit, Proteste wie die Straßenblockaden abhängig vom Einzelfall aufgrund der Gefahr des Klimawandels rechtlich zu rechtfertigen. In anderen Urteilen wurde diese Form der Rechtfertigung bisher aber explizit abgelehnt.
Foto: Marcel Mücke - AdobeStock
Darüber hinaus könnte sich auch aus den Grundrechten, insbesondere der Glaubens- und Gewissensfreiheit, der Meinungsfreiheit und der Versammlungsfreiheit, eine Rechtfertigung für Klimaproteste, die Straftaten darstellen, ergeben.
Angesichts der aktuell großen Vielzahl an Strafverfahren gegen Klima-Aktivist*innen bleibt abzuwarten, wie sich sowohl der gesellschaftliche als auch der juristische Blick auf die Klimabewegung und ihren Protest entwickeln wird – auch in Bezug auf eine juristische Rechtfertigung der Proteste. In der Vergangenheit haben dies schon einige soziale Bewegungen von der Bürgerrechtsbewegung hin zur Friedens- und Anti-Atomkraft-Bewegung erlebt: Ihrem Protest wurde teilweise von Zeitgenoss*innen die Legitimität abgesprochen. Mittlerweile hat sich diese Bewertung verändert und ein großer Teil der Forderungen der Anti-Atomkraft-Bewegung wurden durch den beschlossenen Atomausstieg umgesetzt.
Angesichts der Verschärfung der Klimakrise wird Rawls Frage nach der Legitimität von zivilem Ungehorsam aktuell bleiben: Wie weit darf Protest gehen, angesichts des Rechtes zur Verteidigung seiner Freiheiten und der Pflicht zum Widerstand gegen Ungerechtigkeit?