Europäische Säule Sozialer Rechte – Da war doch was?
Was ist eigentlich aus der Europäischen Säule Sozialer Rechte (ESSR) geworden, deren Ziel ist es, die Europäische Union gerechter und sozialer zu machen und die Rechte der Bürger*innen zu stärken? Gerade jetzt, wo die Corona-Pandemie uns allen in aller Deutlichkeit vor Augen führt, wie viele Missstände im Bereich Arbeit und Soziales in der EU noch vorhanden sind, sollte doch eigentlich die Stunde der ESSR schlagen. In 20 Grundsätzen, die sich in die drei Kategorien Chancengleichheit und Arbeitsmarktzugang, Faire Arbeitsbedingungen sowie Sozialschutz und soziale Inklusion einordnen lassen, wird in der Säule aufgeführt, wie sozialen Ungleichheiten in der EU entgegengewirkt werden kann. Als groß angekündigtes Projekt der letzten EU-Kommission unter Jean-Claude Juncker, wurde die Säule im November 2017 auf einem Sozialgipfel feierlich verabschiedet. Viel verändert hat sich seitdem für die Bürger*innen in der EU nicht, denn die ESSR ist rechtlich nicht verbindlich.Deutsche Ratspräsidentschaft hat ESSR auf der Agenda
Daher ist es gut, dass die deutsche EU-Ratspräsidentschaft die ESSR nicht ganz vergessen hat und sich in den nächsten sechs Monaten für die Entwicklung eines EU-Rahmens für nationale Mindestlöhne einsetzen will. Damit würde ein Teil des sechsten Grundsatzes der ESSR (Löhne und Gehälter) rechtlich verbindlich umgesetzt werden. Auch den Vorschlag der Kommission für eine europäische Arbeitslosenrückversicherungsregelung und die Verbesserung der Durchsetzung der Arbeitsbedingungen von Saisonarbeitnehmer*innen stehen auf dem Programm der deutschen EU-Ratspräsidentschaft, was weitere Schritte auf dem Weg zur konkreten Umsetzung der Europäischen Säule Sozialer Rechte wären.Mit Widerstand darf gerechnet werden
Doch es darf bei der Umsetzung dieser Punkte mit Widerstand im Rat gerechnet werden und der Diskussionsbedarf zwischen den einzelnen Mitgliedsstaaten wird hoch sein. Denn wie auch bei der Reform der Entsenderichtlinie werden insbesondere mittel-und osteuropäische Staaten z.B. einem EU-Rahmen für nationale Mindestlöhne eher skeptisch gegenüber stehen. Denn das Lohngefälle innerhalb der EU verschafft insbesondere Unternehmen aus diesen Ländern einen Arbeitskostenvorteil.Trotz dieser Widerstände konnte bei der Entsenderichtlinie ein Kompromiss erzielt werden, der zu mehr Gerechtigkeit bei der Bezahlung von entsendeten Arbeitnehmer*innen führt. Eine ähnliche Einigung könnte auch bei einem EU-Rahmen für nationale Mindestlöhne möglich sein. Die Vorhaben der deutschen EU-Ratspräsidentschaft sind ein erster Schritt, um die EU sozialer und gerechter für Bürger*innen zu gestalten. Sie sind aber auch nur ein erster Schritt. Denn die Möglichkeiten der Politik Verbesserungen im Bereich Arbeit und Soziales auf der Ebene der EU zu bewirken sind begrenzt. Denn zum einen müssen die Kompetenzen zwischen der EU und den Mitgliedsstaaten berücksichtig werden. Zum anderen zeigt die Corona-Pandemie auf, wie groß die Missstände insbesondere in den Bereichen Fleischindustrie, Pflege, Saisonarbeit, Transport- oder Baugewerbe zum Teil sind und wie von manchen jede Lücke in den nationalen Regelungen und EU-Regelungen ausgenutzt wird, um den Profit zu maximieren. Die Interessen, Rechte und der Schutz der „einfachen“ Arbeitnehmer*innen, die letztlich die Arbeit verrichten, bleiben hier häufig auf der Strecke. Gegen diese unternehmerischen Strukturen, helfen die vorgeschlagenen Programmpunkte der deutschen EU-Ratspräsidentschaft leider kaum. Vielmehr zeigt sich, dass die Europäische Säule Sozialer Rechte bisher die Hoffnungen, die mit ihr verbunden waren, nicht einlösen konnte.
Und wir Christinnen und Christen? Wir im Verband Kirche Wirtschaft Arbeitswelt engagieren uns zum Beispiel beim Projekt „Faire Mobilität“ des DGB. Hier erhalten mobile Arbeitnehmer*innen Beratung und Information über ihre Rechte. Auch können wir uns in gesellschaftlichen Diskursen zum Themenbereich Arbeit und Soziales, die durch die Corona-Pandemie eine andere Aufmerksamkeit erhalten haben, einbringen und so versuchen auf eine sozialere EU hinzuwirken. von Dr. Julia Dinkel, Referat Arbeit und Soziales im ZGV