11.09.2018
Erwerbslosigkeit
Gib mir was, was ich wählen kann
Menschen, die arbeitslos sind und es aufgegeben haben, zur Wahl zu gehen, sind nach Erkenntnissen von Wissenschaftlern „relativ leicht zurückzuholen, wenn sich die Politik ihnen zuwendet“. So formulierte es Martin Tertelmann des Stuttgarter Sozialunternehmens Neue Arbeit gGmbH vor 50 Arbeitslosen in Erbach.
Die Veranstaltung zum Thema "Gib mir was, was ich wählen kann" war vom Referat Berufs- und Arbeitswelt im Bistum Mainz, dem Zentrum Gesellschaftliche Verantwortung der Evangelischen Kirche in Hessen und Nassau (EKHN) sowie dem Arbeitslosentreff Kompass vorbereitet worden.
Vier Politiker und eine Politikerin, die bei den hessischen Landtagswahlen am 28. Oktober für das Direktmandat im Odenwaldkreis kandidieren, sowie der Ersatzbewerber Raoul Giebenhain (SPD) waren vor allem zum Zuhören eingeladen worden. Sie sollten erfahren, wie sich langzeitarbeitslose Nichtwähler*innen fühlen.
Sandra Funken (CDU), Frank Diefenbach (Grüne), Moritz Promny (FDP), Anton Stortchilov (Die Linke)und Karl-Ludwig Kunstein (AfD) hatten allerdings auch die Gelegenheit, zu erläutern, was sie diesem Personenkreis anzubieten haben.
Allgemein gelobt wurde die Art und Weise, wie die Studie der Denkfabrik-Forum für Menschen am Rande der Neuen Arbeit Stuttgart gGmbH die Meinungen von Menschen erforscht hat, die seit langer Zeit ohne Arbeit sind. Unmittelbar vor der Bundestagswahl vor einem Jahr waren die zum Teil erstaunlichen Zwischenergebnisse vorgelegt worden. Zu den Überraschungen gehörte, dass diese Gruppe der Nichtwähler im Durchschnitt gut informiert und an politischen Themen interessiert ist, wie Tertelmann berichtete. Interviewt wurden die Arbeitslosen nicht wie üblich von Soziologen, sondern von Menschen, die ihrerseits das Schicksal der Arbeitslosigkeit kennen.
Die Erhebung wurde von Professor Franz Schultheis (Sankt Gallen) wissenschaftlich begleitet.
Schultheis warnt vor den Gefahren für die Demokratie. Auch Tertelmann sagte, das Vertrauen in das politische System gehe verloren. Andererseits verstetige die steigende Zahl der Nichtwähler aus den sozial schwachen Schichten der Bevölkerung eine „Politik für die Mittel- und Oberschicht“.
Aus der Studie wird die Forderung abgeleitet, die Politik müsse für Verteilungsgerechtigkeit sorgen. Das beziehe sich auf Lebenschancen, auf Vermögen und Einkommen.
Insgesamt wurde von Diskussionsteilnehmer*innen im Publikum gelobt, dass die Studie die Situation der Langzeitarbeitslosen gut beschreibe: Das Gefühl von massiver sozialer Ungerechtigkeit, die Angst vor dem Abstieg, die Erkenntnis, „Bürger zweiter Klasse“ zu sein bestätige diese Gruppe der Nichtwähler*innen, den Wahlurnen fern zu bleiben. „Immer ist Geld da, nur nicht für mich“, diese Erkenntnis habe sich vor allem nach der globalen Finanzkrise 2008 eingestellt, als Banken mit zweistelligen Milliardenbeträgen aus der Staatskasse gerettet wurden.
Sandra Funken sowie die fünf Kollegen der anderen Parteien ließen erkennen, dass sie die Sorgen und Nöte ernst nehmen. Dass es auch im Gesundheitssystem eine Zwei-Klassen-Medizin gebe und dass die Probleme im ländlichen Raum wie dem Odenwaldkreis verstärkt auftreten, diesen Eindruck konnten sie jedoch nicht zerstreuen.
„Sprecht mit uns. Nehmt uns ernst. Wir wollen Gerechtigkeit, keine prekären Arbeitsverhältnisse“, so werden in der Studie der Stuttgarter Forscher die Forderungen der Langzeitarbeitslosen zusammengefasst. Die Gesprächsbereitschaft war bei der Diskussionsveranstaltung im Gemeindezentrum der Pfarrei Sankt Sophia zu erkennen. Die Aktiven aus dem Arbeitslosen-Treff Erbach überlegen deshalb, ob sie einzelne Politiker noch im Laufe des Wahlkampfs zu einer Vertiefung des Dialogs einladen.
Michael Ohlemüller /Marion Schick