Möglichkeiten kirchlichen Engagements in der Bekämpfung von Kinder- und Jugendarmut
Kinder- und Jugendarmut in Deutschland bzw. die vielfältigen und tendenziell schwerwiegenden Folgen von Armut für die betroffenen Kinder und Jugendlichen sind komplexe politische Probleme. Doch die evangelische Kirche und ihre Einrichtungen können in diesem Bereich wichtige Beiträge leisten.
von Ruwen Pietzner, Student der Politikwissenschaften an der Philipps-Universität Marburg und Praktikant im Referat Arbeit & Soziales des ZGV
Anlässlich des Internationalen Tages für die Beseitigung der Armut wird die Arbeit von vier Einrichtungen vorgestellt, die in der Bekämpfung von Kinder- und Jugendarmut und deren Folgen aktiv sind: den Fachbereich Kindertagesstätten des Zentrum Bildung der EKHN, der Werkstattkirche in der Gießener Nordstadt, das Programm „Startklar“ der Jugendwerkstatt Gießen, sowie die Arbeit der Fachstelle Gesellschaftliche Verantwortung des Dekanats Wiesbaden.
Pädagogisch Teilhabe stärken
Nach Auffassung von Sabine Herrenbrück, Leiterin des Fachbereichs Kindertagesstätten des Zentrum Bildung, ist bezogen auf den Alltag der rund 600 Kindertageseinrichtungen in der EKHN ein Aspekt von Kinderarmut besonders relevant: Im Zuge von Armut werden betroffene Kinder oft früh mit Ohnmachtsgefühlen und Ausschluss von sozialer Teilhabe konfrontiert. Im Fachbereich ist das Prinzip von Partizipation der Kinder am Kita-Alltag konzeptionell fest verankert, denn gelebte Partizipation fördert z.B. die Entwicklung sozialer Kompetenzen und Sprachfähigkeit von Kindern. Gerade für die Entwicklung armutsbetroffener Kinder können diese Partizipationsmöglichkeiten angesichts von Ohnmachtserfahrungen durch Armut von großer Bedeutung sein: Sie lernen, dass sie eine Wahl haben, dass ihre Bedürfnisse und Interessen zählen – sie erfahren Teilhabe.
Damit die Teilhabe armutsbetroffener Kinder am Kita-Alltag und die Zusammenarbeit mit deren Eltern gelingen kann, ist von pädagogischen Fachkräften armutssensibles Handeln gefragt: Diese müssen lernen, ohne Vorurteile und Verurteilungen, mit der gesellschaftlichen und sozioökonomischen Heterogenität der ihnen anvertrauten Kinder und deren Eltern umzugehen und sie nicht zu stigmatisieren, beispielsweise wenn die Kinder ohne zu frühstücken in die Kita kommen.
Neben der Nächstenliebe ist in diesem Zusammenhang auch Konvivenz ein wichtiges christliches Prinzip. Denn Konvivenz bedeutet „Miteinander leben, voneinander lernen und miteinander feiern“. Aufbauend auf ihrem Konzept „Gut gelebter Alltag“ unterstützt die Pädagogische Fachberatung die EKHN-Kitas bei der Gestaltung eines Kita-Alltags, der diesen Prinzipien entspricht, und trägt somit dazu bei, die Teilhabeperspektiven armutsbetroffener Kinder zu stärken, was die Entwicklung der Kinder auch langfristig positiv beeinflussen kann.
Gemeinwesenarbeit als Gottesdienst
Die Werkstattkirche arbeitet nach dem Prinzip der Gemeinwesenarbeit: Teilnehmende Menschen werden nicht als Konsumenten von Angeboten verstanden, sondern als „Mitmach-Menschen“ – Menschen aus der Gießener Nordstadt bringen sich in vielfältiger Weise ein, helfen sich gegenseitig, übernehmen Verantwortung füreinander, und es entstehen Beziehungsnetzwerke zwischen den Mitmach-Menschen. Die Werkstattkirche ist keine herkömmliche Kirche, sie versteht sich als ein Menschenhaus und nicht als ein Gotteshaus: Für Christoph Geist, Pfarrer im Ruhestand und engagierter Mitmach-Mensch, ist nach Römerbrief (12,1) auch der praktische Dienst am Menschen Gottesdienst.
Kinder- und Jugendarmut ist auch in der Gießener Nordstadt ein großes Problem: Geschätzt die Hälfte aller Kinder und Jugendlichen leben in Familien, die Transferleistungen erhalten, und es mangelt vielen Familien an notwendigen Ressourcen (Möbel, gesundes Essen, Spielzeug…). Armutsbetroffene Kinder und Jugendliche wachsen oft bildungs- und kulturfern auf und weisen oft Defizite in der sozialen Entwicklung auf. Die Mitmach-Menschen unterstützen armutsbetroffene Kinder und Jugendliche sowie deren Eltern praktisch und pädagogisch: Familien erhalten der Werkstattkirche gespendete Möbel, Kleider und Spielsachen, und im Netzwerk der Mitmach-Menschen werden z.B. Erziehungsunterstützung, Nachhilfe oder Instrumentalunterricht vermittelt.
Insbesondere das Projekt „Mobile Kinderbücherei“ richtet sich gegen kulturelle Armut: Mit einem Bollerwagen voller gespendeter Kinder- und Jugendbücher ziehen Mitmach-Menschen durch die Nordstadt und verteilen sie, denn kulturelle Ressourcen wie Bücher spielen eine wichtige Rolle bei der emotionalen, sozialen und intellektuellen Entwicklung von Kindern und Jugendlichen. Bewusst werden die Bücher unabhängig von der sozialen und finanziellen Lage der Eltern verteilt, damit armutsbetroffene Familien nicht stigmatisiert oder beschämt werden – angesichts der sozialen Lage im Stadtteil erreicht die Hilfe größtenteils besonders bedürftige Familien.
Jugendberufshilfe kann Wege aus der Armut eröffnen
Das Programm „Startklar“ der Jugendwerkstatt Gießen richtet sich an (sozial benachteiligte) Jugendliche und junge Erwachsene unter 27 Jahren, denen aufgrund fehlender sozialer Kompetenzen oder mangelnder Orientierung die Integration in Gesellschaft und Arbeitswelt noch nicht (abschließend) gelungen ist. Dies kann z.B. aufgrund einer psychischen Erkrankung der Eltern, welche Kinder und Jugendliche oft psychisch belastet und überfordert, oder einer hohen Anzahl von Geschwistern der Fall sein.
Auch in der Arbeit der Jugendwerkstatt ist ein sensibler Umgang mit gesellschaftlicher und sozioökonomischer Heterogenität von großer Bedeutung: Solidarität und die Wertschätzung aller Menschen, ungeachtet der Unterschiede und Hintergründe der Menschen, sind Leitgedanken der Jugendwerkstatt. Mittels pädagogischer und therapeutischer Betreuung im Rahmen des Programms sowie der Bereitstellung beruflicher Erprobungsmöglichkeiten in der Jugendwerkstatt – von der Metallwerkstatt über den Kreativ- und Textilbereich bis hin zum Kaufhaus der Jugendwerkstatt – entdecken die Teilnehmenden des Programms ihre Stärken und Neigungen, entwickeln Fähigkeiten und lernen, ihren Alltag nach selbst definierten Zielen zu gestalten.
Das Programm „Startklar“ will den Teilnehmenden die für Werktätigkeit und soziale Teilhabe notwendigen sozialen, emotionalen und kognitiven Kompetenzen vermitteln. Die Teilnahme am Programm führt idealerweise zu Praktika, Berufsausbildung oder einem Arbeitsplatz. Integration in den Arbeitsmarkt ist eine notwendige, wenn auch nicht immer ausreichende, Voraussetzung dafür, dass Jugendliche ihrer Armutssituation entkommen können. Somit leistet das Programm „Startklar“ und die Arbeit der Jugendwerkstatt indirekt einen Beitrag zur Bekämpfung von Jugendarmut.
Politische Bündnisarbeit in Wiesbaden
Nicole Nestler, Fachstelle für Gesellschaftliche Verantwortung im Dekanat Wiesbaden, war 2019 maßgeblich an der Gründung des Aktionskreises gegen Kinder- und Jugendarmut in Wiesbaden beteiligt, dem mittlerweile unter anderem beide Kirchen in Wiesbaden, Gewerkschaften, Träger sozialer Arbeit und das Junge Staatstheater Wiesbaden (JUST) angehören.
Für sie ist ihre Arbeit im Aktionskreis eine Frage von Gerechtigkeit, denn im reichen Wiesbaden ist mehr als jedes fünfte Kind unter 18 Jahren von Armut betroffen, in manchen Stadtteilen sogar fast jedes zweite Kind. Doch vielen Menschen in Wiesbaden fehlt das Bewusstsein für die Armut in ihrer Stadt. Darüber klären die Mitglieder des Aktionsbündnisses in Veranstaltungen und mit Aktionen auf und bringen das Thema an die Wiesbadener Öffentlichkeit. Beispielsweise führt das Junge Staatstheaters Wiesbaden (JUST) seit 2022 das Stück „Wutschweiger“ auf, das sich mit dem Thema Kinder- und Jugendarmut auseinandersetzt.
Der Arbeitsschwerpunkt von Nicole Nestler hingegen liegt in politische Arbeit des Aktionskreises: Zu ihrer Arbeit gehören die Zusammenarbeit mit der Wiesbadener Verwaltung und dem Sozialdezernat, die Presse- und Öffentlichkeitsarbeit sowie die politische Lobbyarbeit, z.B. wenn es um den Wiesbadener Schulentwicklungsplan oder den Sozialhaushalt geht. Die gesellschaftliche Breite des Aktionskreises ist in dieser Hinsicht ein großer Vorteil, denn sie stärkt die Wirkungsmacht ihrer Mitglieder – so konnten beispielsweise 2020 geplante Kürzungen im Wiesbadener Sozialhaushalt verhindert werden. Aktuell sind wieder Kürzungen im den Sozialhaushalt 2024/25 vorgesehen, und Nicole Nestler ist aktiv in der Kampagne „Finger weg vom Sozialetat“, in der sich mittlerweile mehr als 70 Trägerinstitutionen der Sozialen Arbeit und Vereine gegen die geplanten Kürzungen zusammengeschlossen haben.
von Ruwen Pietzner, Student der Politikwissenschaften an der Philipps-Universität Marburg und Praktikant im Referat Arbeit & Soziales des ZGV